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FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Teil 2 (letzter Teil): "Die tiefere Ursache der MS" von Werner Sattmann-Freese

Die pathologische Struktur der MS

Ein Schlüsselwort bei der MS ist, genau wie bei anderen autoimmunen Reaktionen auch, die Identität. Auf der makroskopischen Ebene beendet der MS-Schub einen Zeitabschnitt, in dem der Mensch sich mehr mit den Forderungen anderer als mit den eigenen Bedürfnissen und Gefühlen identifiziert hat. Auf der mikroskopischen Ebene finden wir folgendes: Die Leukozyten, die offensichtlich für das wahre Selbst arbeiten, identifizieren bestimmte Abschnitte des Myelingewebes im Zentralen Nervensystem und greifen sie an. Durch diesen Angriff, dem eine Entzündung und die Bildung von Narbengewebe folgen, schwächt das wahre Selbst die Nervenfunktion, die zusammen mit den dazugehörigen Muskeln dem Ego (den Forderungen eines anderen) mehr dient als den eigenen inneren Bedürfnissen. Das bedeutet, dass Teile des Körpers sich mit fremden Interessen identifiziert haben. Die autoimmune Reaktion ist der „gesunde“ Versuch, das treulose Gewebe zu vernichten. Daraus kann sich beispielsweise das Symptom der schwachen Beine ergeben. Ein Patient mit schwachen Beinen kann sich nicht mehr für andere verausgaben. Gleichzeitig hat das gebildete Symptom einen starken Botschaftscharakter und könnte als der erwähnte Lehrer dienen.

Die Ursache der MS

Was ist die Ursache der multiplen Sklerose? Ist es die autoimmune Reaktion? Sicherlich nicht. Diese Reaktion ist nur Ausdruck des inneren Kampfes zwischen dem Ego und dem wahren Selbst, das für das Überleben des ganzen Organismus aktiv werden muss. Nach allem, was gesagt wurde, könnten wir natürlich Mütter für ihre Unfähigkeit verantwortlich machen, mit der Abhängigkeit ihrer Babys oder mit dem Streben ihrer Kinder nach Unabhängigkeit umzugehen. Wen würden wir aber verantwortlich machen, wenn den Müttern dasselbe widerfahren ist, als sie klein waren? Thorwald Dethlefsen, ein deutscher Psychologe und Esoteriker behauptet, dass die einzige ernstzunehmende Ursache jeder Krankheit der Urknall ist, der unser Universum geschaffen hat. Er schreibt, dass unsere Definition einer Ursache lediglich ein willkürlicher Einschnitt in die unendliche Ursache-Wirkung-Kette ist. (Th. Dethlefsen, Krankheit als Weg.) Ich stimme mit ihm darin überein, dass wir lieber lernen sollten, die Krankheit als Lehrer auf unserer Suche nach mehr Bewusstheit zu nutzen und sie überflüssig zu machen als jemanden zu suchen, den wir verantwortlich machen können.

MS als Lehrer

Was können wir von dieser Krankheit und ihrem emotionalen Hintergrund lernen? Ob man nun an MS leidet oder nicht, es lohnt sich sicherlich, darüber nachzudenken, wie man mit den eigenen Bedürfnissen und Grenzen umgeht. Hasst man es, bedürftig zu sein, oder verachtet man Leute, die ihre Bedürfnisse frei ausdrücken? Für erwachsene Menschen ist es immer noch äußerst natürlich, das Bedürfnis, geliebt und umsorgt zu werden, zu empfinden und auszudrücken.

Es ist eine Illusion zu glauben, man käme ohne andere zurecht. Jeder hat die Fähigkeit zu lieben und zu umsorgen, aber diese Eigenschaften werden unehrlich und verzerrt, wenn man sich nicht selbst erlaubt, auch Empfänger zu sein.

Ist es schwierig, die Grenzen innerhalb von Beziehungen zu setzen? Vermeidet man es, Leute zurückzuweisen oder zu verletzen? Man mag es nicht mögen, Grenzen zu setzen oder jemanden zurückzuweisen, aber es ist ein natürliches Kennzeichen des Lebens, solches zu tun. Wenn man ehrlich zu sich selbst stehen will, ist es unvermeidbar, ab und zu jemanden zu verletzen. Emotionalen und physischen Schmerz zu verursachen und zu erfahren, ist ein fester Bestandteil des Lebens.

Ist es schwierig, Menschen nahe zu kommen? Einige Menschen mit Grenzkonflikten verstecken sich hinter starren Grenzen. Obwohl dies eher ein Thema für AIDS zu sein scheint, kenne ich einige MS-Patienten, die ihre Angst vor Grenzüberschreitungen in extreme Zurückweisung verkehrt haben. Wenn man die Liebe und Nähe anderer im Leben vermisst, könnte man versuchen, Bewusstheit für die eigenen Änste in bezug auf Nähe und Ausgeliefertsein zu entwickeln.

Wer erkrankt?

Die meisten von uns haben Probleme, die die Themen von MS betreffen, allerdings sind die meisten von uns gesund. Und zwar deshalb, weil wir normalerweise ein bestimmtes Maß an Aufmerksamkeit gegenüber den beschriebenen Problemen haben. Es sind die Menschen, die besonders unaufmerksam und fügsam sind, die vielleicht die Unterstützung des wahren Selbst benötigen, um das Leben zu meistern. Es ist paradox, dass ein System, welches Leben unterstützt, einen Menschen töten kann. Unsere Krankheiten erlauben uns, bestimmte Gefühle auszudrücken, aber sie können ihre eigene Dynamik entwickeln und uns töten, wenn wir es zulassen indem wir zögern, von ihnen zu lernen.

Was können MS-Patienten tun?

MS-Patienten brauchen meistens professionelle psychotherapeutische Unterstützung, wenn sie ihre Krankheit überflüssig machen wollen. Gleichzeitig ist medizinische Behandlung sehr wichtig, um die Spastik zu reduzieren oder um einen Schub zu begrenzen. Mit psychotherapeutischer Unterstützung wird der MS-Patient lernen, alte, „vergessene“ Gefühle zu integrieren und angemessene emotionale Grenzen herzustellen. Ich habe Menschen kennengelernt, die sich selbst auf diese Weise geheilt haben, und ich hoffe, dass mehr Menschen den Mut finden, diesen oft steinigen Weg zu gehen. Schließlich scheint die schmerzliche Erfahrung, alte Gefühle anzuschauen, klein zu sein verglichen mit einem langen Leben als behinderter Mensch.

Verwandte Krankheiten

Colitis ulcerosa und Morbus Crohn haben dieselbe zugrundeliegende Problematik mit der Grenzziehung, die statt im Nervensystem in den Därmen ausgelegt wird.

Anmerkung

Der Artikel des in Australien lebenden Psycho- und Körpertherapeuten ist 1989 unter dem Titel „The Underlying Cause of MS“ in „Australian Wellbeing“, Nr. 35 erschienen. Aus dem Englischen übersetzt wurde er von Sigrid Arnade in Anlehnung an eine Übersetzung von Anke Ramdohr-Antson.

Erstveröffentlichung im Rundbrief Nr. 1, Sommer 1992.

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