Skizze für ein Selbsthilfeprojekt der Stiftung LEBENSNERV

Weiterbildung in lebensbegleitender Beratung auf "Peer-Basis" zur Förderung von Selbsthilfe und Eigenverantwortlichkeit MS-betroffener Menschen

Curriculumentwicklung - Pilotkurs - Öffentlichkeitsarbeit


0. Information zur Stiftung LEBENSNERV

Die Stiftung LEBENSNERV wurde 1991 als psychosomatisch orientierte Selbsthilfeorganisation im Bereich der MS-Forschung von zwei MS-betroffenen Frauen gegründet. Die mit 100.000 DM Grundkapital ausgestattete Stiftung mit Sitz in Berlin versteht sich als Anschub- und Koordinationsstelle, die die psychosomatische Forschung bei MS vorantreibt und die ganzheitliche Sicht der Erkrankung an MS sowie die Eigenverantwortung der Betroffenen fördert. Die drei Leitgedanken der Stiftung sind demgemäß "Selbsthilfe" - "Ganzheitlichkeit" - "Eigenverantwortung".

Der Stiftungszweck von LEBENSNERV wird insbesondere verwirklicht durch

  1. Vergabe eines Förderpreises für Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der psychosomatischen MS-Forschung (2.500 € alle zwei Jahre)
  2. Förderung und Herausgabe von Veröffentlichungen, die sich auf den Stiftungszweck beziehen
  3. Förderung und Unterstützung von Projekten und Initiativen, die im Sinne des Stiftungszweckes arbeiten. Dies können beispielsweise sein:
  • psychologische Beratung und Unterstützung von MS-Betroffenen
  • Unterstützung von einzel- und gruppentherapeutischen Angeboten von und für MS-Betroffene
  • Weiterbildung von selbst betroffenen/chronisch kranken Beraterinnen und Beratern, die eine ganzheitliche Sicht der Erkrankung vermitteln können.

 

1. Ausgangssituation

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen, und trotz intensiver Forschung ist die Ursache der MS immer noch unbekannt. In der BRD sind etwa 120.000 Personen von MS betroffen. Zu etwa 40 Prozent sind MS-Betroffene auf Hilfsmittel wie Stützen, Rollstuhl, etc. angewiesen. Der Verlauf der MS ist unvorhersehbar. Die Krankheit verläuft manchmal gleichmäßig fortschreitend (= progredient), meist aber in Schüben, die sich zu Beginn der Krankheit zeitweilig zurückbilden. Die körperliche Seite der Erkrankung wird bislang mit großem Aufwand erforscht, den psychischen Fragestellungen wird jedoch bislang zu wenig nachgegangen.

 

2. Problemstellung

Aus der Literatur ist bekannt, dass die Diagnosemitteilung und der Verlauf einer Multiplen Sklerose tiefe Spuren in der Lebensgeschichte der Betroffenen hinterlassen. Häufig führen die Symptome dieser bisher unheilbaren chronischen Erkrankung zum Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben, zu Selbstwertproblemen und Resignation, da die gesamte Identität der Betroffenen erschüttert wird. Obwohl niemand diese Tatsache bezweifelt, werden die Betroffenen mit ihren Angehörigen und FreundInnen doch weitgehend alleine gelassen.

Der "Peer-Counseling-Ansatz"

Ein Angebot an psychischer Unterstützung, das diesen Tendenzen erfolgreich entgegenwirken könnte, wird bisher kaum vorgehalten. Und dort, wo es vorhanden ist, erfolgt die Unterstützung durch nichtbetroffene Fachleute, meist NeurologInnen, PsychiaterInnen, PsychotherapeutInnen oder SozialarbeiterInnen. Dieser traditionelle Ansatz hat jedoch seine Grenzen, da er von vielen MS-Betroffenen als bevormundend, von oben herab oder zu medizinisch orientiert erlebt wird. Abhilfe kann in diesem Falle die ergänzende Unterstützungsform des "Peer-Counseling" (Betroffene beraten Betroffene) bringen. Der Begriff "Peer-Counseling" stammt aus der weltweiten "Independent Living - Bewegung" behinderter Menschen, die für Selbstbestimmung, Selbsthilfe und Eigenverantwortung eintreten. Hier sind die BeraterInnen "peers", "Gleiche", also Menschen, die ähnliches erlebt haben wie ihre GesprächspartnerInnen.

Bei der gemeinsamen Suche nach einem besseren Weg mit der Krankheit bringen die betroffenen BeraterInnen ihre eigenen Erfahrungen mit ein: ihre Mühen und Ängste, aber auch ihr Selbstvertrauen und ihren Mut. Es ist unseres Erachtens nicht unbedingt notwendig, dass bei allen Beraterinnen und Beratern die gleiche medizinische Diagnose gestellt worden ist, sondern es kommt entscheidend auf das gemeinsame Merkmal der eigenen Behinderung bzw. chronischen Erkrankung an. Das Ziel des "Peer- Counseling" ist, behinderte Ratsuchende in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken und sie in ihrem Selbsthilfepotenzial zu unterstützen, eigene Problemlösungen zu entwickeln. Dadurch, dass der Berater oder die Beraterin zum einen selber behindert oder chronisch krank ist, zum anderen zusätzlich die fachliche Qualifikation als BeraterIn mitbringt, kann sich eine größere Vertrauensbasis entwickeln und eine Vorbildrolle wahrgenommen werden.

"Peer-Counseling" bei LEBENSNERV

In Umsetzung dieser Überlegungen hat die Stiftung LEBENSNERV von Februar 1999 bis Ende Juni 2001 eine behinderte Gestalttherapeutin, Monika Maraun, beschäftigt, die nach dem Modell des "Peer-Counseling" Beratung für MS-Betroffene in Berlin und Umgebung angeboten hat. Die Beratung fand kostenlos in den Räumen der Fürst Donnersmarck-Stiftung statt.

Die Beschäftigung von Monika Maraun wurde mit degressiven Zuschüssen durch das Arbeitsamt gefördert. Die restlichen Mittel zur Bezahlung der Lohnkosten sowie begleitender Kosten, wie Telefon, Porto, Supervision und Beiträge zur Berufsgenossenschaft wurden durch die finanzielle Unterstützung der "Stiftung für Bildung und Behindertenförderung", der Stiftung "Arbeit für Behinderte" des Landes Berlin sowie durch die "Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranke MSK e.V." unterstützt. Ende Juni 2001 erhielt Monika Maraun das Angebot der Fürst Donnersmarck-Stiftung, als "Peer-Counselorin" in deren neuen Abteilung "Freizeit, Bildung und Beratung" auf Basis einer unbefristeten Stelle zu arbeiten.

Das Angebot zur "lebensbegleitenden Beratung" der Stiftung LEBENSNERV stieß von Beginn an auf große Nachfrage. So konnten in diesem Zeitraum 12 Ratsuchende in 569 Beratungsstunden in wöchentlichen Abständen eine kontinuierliche Prozessbegleitung wahrnehmen. Weitere 24 Frauen und Männer ließen sich auf eine Warteliste eintragen, obwohl die Beratungsprozesse oft sehr langwierig sind.

Die Schwerpunkte der Beratungsarbeit lagen vornehmlich in der Förderung des selbstbestimmten Lebens, der Auseinandersetzung mit der Behinderung, Krankheitsverarbeitung, Beratung in familiären und beruflichen Konfliktsituationen, Erkunden von Kraftquellen, Entspannungsübungen, Bewusstwerden von angesammelten Aggressionen, Trauer und Enttäuschungen und deren Ausdruck zur Entlastung. Die Arbeit bezog sich vornehmlich auf das "Hier und Jetzt" und die Erfahrungen sollten in den Alltag integriert werden.

Gerade der Aspekt der Beratung auf "Peer-Counseling-Basis" wurde und wird immer wieder als sehr wichtig von den MS-betroffenen Ratsuchenden eingeschätzt. Demnach ist der aktuelle Bedarf sehr groß - aus der gesamten Bundesrepublik erreichten Monika Maraun und die Stiftung LEBENSNERV Anfragen nach vergleichbaren Angeboten in anderen Regionen. Leider musste bisher immer abgesagt werden - der Siftung LEBENSNERV sind keine weiteren selbst betroffenen BeraterInnen bekannt, die diesen lebensbegleitenden, psychischen Beratungsbedarf abdecken können.

Aufbau auf bestehenden Angeboten

Es gibt seit einigen Jahren Projekte der Interessenvertetung Selbstbestimmt Leben in Deutschland - ISL e.V., in denen bereits "Peer-CounselerInnen" geschult werden. Hierbei handelt sich um eine breit angelegte, allgemeine Weiterbildung mit den Schwerpunkten Hilfsmittelberatung, Sozialrecht, Arbeitsvermittlung. Eine Weiterbildung, die Kompetenz in tiefergehender und lebensbegleitender Beratung, mit dem Schwerpunkt der psychischen Begleitung vermittelt, könnte das bestehende Angebot der ISL e.V. sinnvoll ergänzen. Gerade bei MS-Betroffenen, die sich bei einem schubförmigen oder chronisch progredienten, niemals aber vorhersagbaren Krankheitsverlauf mit sich ständig verändernden Gegebenheiten auseinandersetzen müssen, ist eine solche Begleitung unverzichtbar. Die bestehenden MS-Beratungsstellen beschäftigen zwar professionelle Kräfte, diese sind jedoch meist selber nicht behindert/chronisch krank und ihr Beratungsschwerpunkt liegt bei medizinischen Fragen.

 

3. Lösungsvorschlag

Es ist demnach erforderlich, in Form eines Selbsthilfeprojektes ein Weiterbildungsangebot in lebensbegleitender Beratung für MS-Betroffene auf "Peer-Counseling"-Basis zu schaffen. Auf Basis dieses Weiterbildungsangebotes können dann kontinuierlich behinderte oder chronisch kranke BeraterInnen geschult werden.

Das Selbsthilfeprojekt der Stiftung LEBENSNERV soll zunächst in zwei Phasen durchgeführt werden: In der ersten Phase wird die "Peer-Beratungs-Arbeit" von Monika Maraun der Jahre 1999-2001 ausgewertet sowie eine Literatur zu der Thematik recherchiert und zusammengestellt. Auf einem ExpertInnen-Workshop werden die Erfahrungen in diesem Bereich zusammengetragen und Fragen wie die Auswahl der zu Schulenden oder Inhalte der Schulungen diskutiert. Auf Basis der Auswertung der stattgefundenen Beratungsarbeit, der Literaturrecherche und der Diskussion in dem ExpertInnen-Workshop wird dann ein Curriculum für ein Weiterbildungskonzept erarbeitet. In der zweiten Phase wird ein Pilotweiterbildungskurs durchgeführt, um das erarbeitete Curriculum zu erproben. Gegebenenfalls wird es überarbeitet. Durch gezielte Pressearbeit wird das endgültige Curriculum bekannt gemacht, damit auch andere Verbände chronisch kranker Menschen davon profitieren und Menschen in ihren Reihen zu BeraterInnen schulen können. Die Stiftung LEBENSNERV wird nach Projektabschluss Sponsoren für weitere Schulungen suchen, um langfristig ein Beratungsnetz in der gesamten Bundesrepublik aufbauen zu können.

Phase 1: Curriculumentwicklung (15.12.2002 - 14.12.2003)

In der ersten Phase wird ein Curriculum für die Weiterbildung in lebensbegleitender Beratung auf der Basis des "Peer Counseling" entwickelt. Dazu erfolgen nachstehende Schritte:

  1. Auswertung der erfolgten Beratung bei LEBENSNERV
  2. Literaturrecherche zu vorhandener Peer Counseling-Literatur
  3. Vorplanung Curriculum
  4. ExpertInnenten-Workshop zum Curriculum (Inhalte /TeilnehmerInnenprofil)
  5. Curriculumerstellung


Phase 2: Durchführung eines Pilotkurses und eventuelle Curriculumrevision (1.01.2004 - 30.11.2005)

In dieser Phase werden zehn TeilnehmerInnen in der lebensbegleitenden Beratung von MS-Betroffenen weitergebildet. Die Weiterbildung findet in zwölf Wochenendseminaren und mit Fernstudienanteilen über zwei Jahre verteilt statt. Die TeilnehmerInnen tragen die Reisekosten selbst und beteiligen sich mit einem Eigenanteil an den Kosten. Unter Umständen wird das Curriculum überarbeitet. Durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit wird das Curriculum anschließend einer breiten Öffentlichkeit auf dem Behinderten-Selbsthilfebereich bekannt gemacht. Dazu sind folgende Schritte notwendig:

  1. Gewinnung von DozentInnen
  2. Gewinnung von TeilnehmerInnen vorwiegend aus Ballungsräumen für den Pilotkurs
  3. Organisation der Wochenenden
  4. Erarbeitung und Betreuung der Fernstudienanteile
  5. Absprachen mit dem Projektbeirat und eventuelle Revision des Curriculums
  6. Öffentlichkeitsarbeit

 

4. Zielgruppe

Die genaue Definition der Zielgruppe der Weiterbildung wird ein Hauptgegenstand des Curriculum-Workshops sein. Es ist denkbar, dass es sich z.B. um therapieerfahrene behinderte und/oder chronisch kranke Personen handeln kann, "Peer-CounselorInnen" aus Selbsthilfeorganisationen mit Interesse an Fortbildung in Beratungskompetenz mit Selbsterfahrungsanteilen, o.ä.

Nach Abschluss der Weiterbildung erhalten die TeilnehmerInnen ein Zertifikat. Dieses Zertifikat soll auch dazu dienen, bislang arbeitslosen behinderten oder chronisch kranken TeilnehmerInnen einen besseren beruflichen Wiedereinstieg in eine beratende Tätigkeit (festangestellt oder auf Honorarbasis) bei einer Behindertenorganisation, einer MS-Beratungsstelle, einer Klinik, etc. zu ermöglichen.

 

5. Projektbeirat

Während des gesamten Projektzeitraums wird das Projekt durch einen fünfköpfigen Projektbeirat begleitet. Diesem gehören voraussichtlich an:

  • Bettina André, Dipl.-Sozialpädagogin/-arbeiterin, Jurymitglied der Stiftung LEBENSNERV, MS-betroffen
  • Anna Kresula, BKK
  • Dr. Mechthilde Kütemeyer, ehemalige Leiterin der psychosomatischen Abteilung in St. Agatha-Krankenhaus Köln, Jurymitglied der Stiftung LEBENSNERV
  • Susanne Same, Dipl.-Sozialpädagogin/-arbeiterin, Gestalttherapeutin, stellvertr. Vorsitzende der Stiftung LEBENSNERV, MS-betroffen
  • Gisela Hermes, Leiterin des Bildungs- und Forschungsinstitutes zum selbstbestimmten Leben Behinderter (bifos) e.V.

 

Der Projektbeirat begleitet das Projekt und kontrolliert, ob die gesteckten Ziele erreicht werden. Dazu trifft er sich einmal jährlich mit den Projektverantwortlichen persönlich und hält zwischenzeitlich über Telefonkonferenzen, schriftlich und per E-Mail Kontakt.

Der Projektbeirat wird von den Projektverantwortlichen laufend über die Fortschritte des Projekts informiert.