Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/99

Teil 2: "Die Gestaltung der Identität beim Erzählen der Lebensgeschichte" von Christian Roesler

Reparaturstrategien

In manchen Fällen der Untersuchung und teilweise auch in bestimmten Lebensphasen der beiden schon genannten Erzähler gelingt allerdings eine solche normalisierende Bewertung der Krankheit nicht. Dann wird die Krankheit eher als eine Beschädigung des Lebens erlebt - eine Erzählerin beschreibt es einmal sehr bewegt so, als stecke sie in einem Gefängnis oder wäre festgekettet, eine Metapher, die sich auf den Aspekt der Lähmung bzw. den Verlust der Kontrolle über die Willkürmotorik bezieht. Diese Beschädigung der Intaktheit des eigenen Lebens wird dann in manchen erzählerischen Darstellungen zu reparieren versucht, man spricht dann in der Biographieforschung von Reparaturstrategien. Eine Form ist die Historisierung, die Verlagerung des primären Erfahrungsschwerpunkts in die Vergangenheit. Diese Reparatur verwendet der schon oben genannte Erzähler Herr F.. Das zeigt sich schon darin, daß er der Schilderung seines Lebens, bevor es von der Krankheit stark eingeschränkt wurde, erheblich mehr Platz einräumt als der Zeit danach und der Gegenwartsphase. Weiterhin zeigt sich dies in seiner Schilderung der Arbeitsbedingungen und der Gestalt seiner Firma "zu meiner Zeit", bevor die Computerisierung seinen Beruf dramatisch verändert hat. Damals habe sich die Arbeit wirtschaftlich noch mehr gelohnt, und es habe eine viel menschlichere Gemeinschaft unter den Kollegen gegeben. Mit dieser Darstellungsweise kann der Erzähler ausdrücken, daß er am Leben teilgenommen hat, als es - "damals" - noch gut und schön war, während die heutigen Arbeitsbedingungen nicht mehr gut sind und es deshalb kein Verlust ist, davon ausgeschlossen zu sein.

Im Gegensatz zu dieser Strategie könnte man die folgende als Futurisierung bezeichnen, als Verlagerung des Erfahrungsschwerpunkts in die Zukunft. Die Erzählerin Frau A., 37 Jahre alt, die schon im Jugendalter erkrankte, empfindet ihr Leben als extrem eingeschränkt durch die Krankheit (vgl. oben: Gefängnismetapher). Sie hat sich besonders ausgiebig über die Krankheit und ihre Behandlungsmöglichkeiten informiert und will daraufhin die Aussage, MS sei nicht heilbar, nicht mehr akzeptieren. Sie hat sich für ein bestimmtes Behandlungsverfahren entschieden und ist überzeugt, daß sie eines Tages ganz gesunden wird. Mit dieser Sichtweise kann sie sich aus der leidvollen Unterworfenheit unter die Herrschaft der Krankheit befreien und für sich wieder eine Position der Aktivität, des Kampfes gegen die Krankheit erwerben, ihre verlorengegangene Autonomie reparieren. In diesem Sinne kann man diesen Reparaturmechanismus unter den Oberbegriff der Reparatur durch Verwandlung von Passivität in Aktivität einordnen.

Dieselbe Erzählerin verfügt noch über eine weitere Reparaturstrategie, nämlich die Verlagerung des Identitätszentrums von der Körpersphäre auf die Willenssphäre. Es ist eine Erkenntnis der Identitätsforschung, daß der Sitz, das Zentrum des Selbst von Mensch zu Mensch in unterschiedlichen Bereichen des Seins verortet wird: in der schlichten Existenz des Körpers, in den geistig-intellektuellen Fähigkeiten oder in den zentralen zwischenmenschlichen Beziehungen. Die genannte Erzählerin nun kann aufgrund ihrer Krankheit nicht mehr selbstbestimmt gehen und ist körperlich geschwächt, lehnt sich aber verzweifelt dagegen auf und kann in mehreren Geschichten belegen, daß sie allein mit ihrer Willenskraft die Welt so bewegen kann, wie sie es will und braucht. Es ist, als würde sie sagen: Ich bleibe ich, solange ich das durch Willenskraft ausgleichen kann, was mir körperlich nicht mehr möglich ist, und solange bleibe ich Sieger über die Krankheit.

Eine eher sprachlich-rethorische Form der Wiederherstellung von Souveränität und Selbstbestimmtheit, die durch die Krankheit beschädigt wurden, findet sich bei mehreren Erzählern: ein selbstironisierendes oder zynisch-humorvolles Sprechen über sich selbst. So macht sich z. B. Frau E. über die Notwendigkeit, starke Medikamente in hohen Dosen einnehmen zu müssen, lustig, indem sie sagt, sie müsse wohl nach ihrem Tode einmal als Sondermüll entsorgt werden. Diese Art der Selbstironisierung ermöglicht es den Erzählern, ihre Distanz zu der Betroffenheit durch die Krankheit zu demonstrieren und sich damit als souverän über die Krankheit, als ungebrochen zu zeigen.

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