Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/98

Teil 2 (letzter Teil): "Ärztliche Anamnese" von Wilhelm Rimpau

Anamnese ist der Beginn von Therapie. Eine Beziehung von Arzt und Patient ist entstanden. Auf Beziehungen kann man aufbauen. Beurteilen, Werten, Wichten des gemeinsam in der Anamnese Erreichten wird der vertrauensvolle Boden sein, aus dem heraus Therapiekonzepte entspringen können. Therapietreue – modern auch Compliance genannt – heißt mitmachen: machen, was man selbst in Übereinstimmung mit seinem Arzt für notwendig hält. Das läßt sich nie nur über den Kopf bewirken, sondern ist immer auch zu vermitteln über richtig verstandene Erlebnisse und Erfahrungen.

Uexküll hat der Medizin den Vorwurf gemacht, im Streben nach technischer Perfektion den Menschen aus dem Auge verloren zu haben. Die Medizin habe es unterlassen, ihr wichtigstes Instrument, das ärztliche Gespräch mit dem Kranken zu vervollkommnen. Watzlawick sagt: „Leben heißt kommunizieren; wir können nicht mehr kommunizieren“. (...)

Ich möchte Sie mit noch einem Satz auf- oder anregen: Medizin ist psychosomatische Medizin – oder sie ist keine Medizin. (...)

Mich bedrückt die derzeitige Entwicklung, die gewissermaßen eine Fachdisziplin „Psychosomatik“ hervorgebracht hat und von sogenannten Psychosomatosen spricht. Dem eigentlich überfälligen Descartes’schen Dualismus von Leib und Seele folgend, werden Erkrankungen künstlich in psychogen bzw. somatogen eingeteilt. Im engeren Sinne gibt es natürlich psychogene Erkrankungen auch mit Körperstörungen, die einer Psychotherapie bedürfen. Aber muß man eigentlich etwas, was selbstverständlich ist, nämlich daß Krankheit mit Leiden einhergeht und immer auch familiäre und berufliche, seelische und soziale Konsequenzen hat, nur deswegen „psychosomatisch“ nennen – eben weil es so ist? Oder könnten wir nicht zu einer Selbstbestimmung der Humanmedizin kommen, die neben dem Lehrbuchtypischen einer Erkrankung auch das Individualtypische des kranken Menschen erkennt und berücksichtigt? Für die Medizin kann allgemein gelten, daß etwa die Anamnese grundsätzlich ärztliche Kunst ist und nicht allein Psychotherapeuten vorbehalten bleibt. Eine Reform der ärztlichen Ausbildung wird nur dann zu einer wirklichen Reform, wenn nicht allein ein Gegenstandskatalog an den 43 medizinischen Fächern und 98 Subdisziplinen entwickelt wird und im Gießkannenprinzip über den Studierenden sechs Jahre lang herabrieselt. Das Medizinstudium muß sich an Grundfertigkeiten orientieren, die jeder Arzt beherrschen sollte. Eine davon ist die Kommunikationsfähigkeit. Bezüglich sei-ner zukünftigen Patienten bedeutet das die Fertigkeit, eine Anamnese und ein ärztliches Gespräch zu gestalten. Wenn ich mit Ihnen zusammen für die Entwicklung der Psychosomatik eintrete, so nicht deshalb, weil ich es für sinnvoll halte, ein neues Fach zu begründen, sondern weil es mir darum geht, Psychosomatik fachübergreifend zu entwickeln. Dem einseitigen naturwissenschaftlichen Paradigma von Krankheit muß die eher geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Qualtiät beiseite gestellt werden, die menschliches Leben unter der Bedingung des Krankseins erforscht, lehrt und im ärztlichen Alltag berücksichtigt.

Lassen Sie mich enden mit einem Appell: Anamnese ist eine Kultur, die wir gemeinsam – Ärzte und Patienten pflegen sollten, wenn wir medizinische Wissenschaft und ärztliche Kunst miteinander verbinden wollen.

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