Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/98

Multiple Sklerose - multiple Bewältigungsformen

Auszug aus dem Vortrag von Hedwig Griesehop und Brigitte Holtkotte

„Multiple Sklerose – multiple Bewältigungsformen“ lautet der Titel unserer Arbeit. Bewältigung ist Gegenstand der Copingforschung, mit der wir uns schwerpunktmäßig im theoretischen Teil auseinandergesetzt haben. Doch eine umfassende Definition von Bewältigung bzw. Coping, über die allgemein Einigkeit bestünde, liegt aufgrund sehr divergenter Konzeptbildungen nicht vor. So wird Bewältigungsverhalten betrachtet als kybernetischer Regulationsvorgang, Informationsverarbeitungs- und Problemlöseprozeß, Wiederherstellung eines Person-Umwelt-Passungsgefüges, Resultat von Abwehrvorgängen und als umweltbezogener Interaktionsprozeß.

Der kleinste gemeinsame Nenner neuerer Ansätze liegt in der allgemeingehaltenen Formulierung, daß Bewältigung als das Bemühen bezeichnet wird, „bereits bestehende oder zu erwartende Belastungen innerpsychisch (d.h. emotional-kognitiv) oder durch zielgerichtetes Handeln zu reduzieren, auszugleichen oder zu verarbeiten.“ Ungeachtet der Schlüssigkeit einzelner Modelle ist unseres Erachtens Bewältigung mehr als die reine Bewältigung des Ereigniskomplexes Krankheit und den damit einhergehenden Anforderungen. Denn der Beginn der MS trifft nicht auf einen geschichtslosen Menschen, bei dem aussagefähige Bewältigungsanalysen erst mit Auftreten der Symptome oder bei Diagnosestellung ansetzen können.

Unser Ansatz ist es, Krankheitsbewältigung aus biographischer Perspektive zu betrachten. Bislang wurde zu wenig berücksichtigt, daß Krankheit und deren Bewältigung auch die Lebensgeschichte der Betroffenen mit einschließt und strukturiert. Es gibt durchaus Ansätze, biographische Elemente mit einzubeziehen wie beispielsweise bei der Berücksichtigung subjektiver Krankheitstheorien. Krankheitsbewältigung nach unserem Verständnis umfaßt die biographische und soziale Aushandlung der Krankheit im Sinne von Gestaltungs- und Austauschprozessen zwischen Krankheit, Kranksein und Umwelt. Grundsätzlich kommt diese Sichtweise in allen Forschungsarbeiten zu MS zu kurz. Die Berücksichtigung subjektiver Umgangsweisen mit MS vor dem Hintergrund, daß Krankheit auf einen Menschen mit Geschichte stößt sowie die Tatsache, daß die Bedeutsamkeit des Lebensereignisses „MS“ erst dadurch zu seiner spezifischen Wirkung kommt, daß die Betroffenen dieses Ereignis in ihrer Individualität aufnehmen und dazu Stellung beziehen, verlangt einen methodischen Zugang, der die Betroffenen selbst mit ihrer Lebensgeschichte zu Wort kommen läßt.

Unser Anliegen ist somit, die Copingforschung weiterzufassen und Eigenperspektiven und das Selbstverständnis der Betroffenen ins Zentrum des Erkenntnisinteresses zu stellen. Das heißt zu fragen, welchen Einfluß die Hypotheken der Vergangenheit, das gegenwärtige Erleben sowie der Zukunftsentwurf auf den Umgang mit der Krankheit haben. Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt in der Herausarbeitung individuell-adaptiver Bewältigungsstrategien und Ressourcen im biographischen Kontext. Anhand lebensgeschichtlicher Erzählungen von drei Frauen und zwei Männern haben wir die Prozeßhaftigkeit des Erkrankungsgeschehens in Hinblick auf die subjektive Ausgestaltung herausgearbeitet. Die Prozeßhaftigkeit analysierten wir unter folgenden Gesichtspunkten:

Die Ergebnisse unserer Arbeit belegen, daß die Betroffenen vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte der Krankheit Sinn verleihen, und daß diese lebensgeschichtlichen Erfahrungen die Wahrnehmung, Verarbeitung und Bewältigung der MS bestimmen. Unser Anliegen ist es, Biographie und Krankheit als Einheit zu betrachten, d.h. die Einbindung und Ausgestaltung der Krankheit in den biographischen Kontext zu stellen, aus dem sich Krankheitsbewältigung erst verstehen läßt.

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