Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/97

Teil 5 (letzter Teil): "Klare Grenzen für die medizinische Forschung - Nürnberger Kodex 1997"

8. Sterbebegleitung und Sterbehilfe

Sterben ist ein Teil des Lebens, in dem der Mensch besonderer liebevoll-mitfühlender Begleitung und leidensmindernder medizinischer Hilfen bedarf. Voraussetzung hierfür ist die bestmögliche Kommunikation zwischen dem Sterbenden und den Begleitpersonen sowie aller Begleitpersonen untereinander. Eine humane Medizin und ein humanes Gesundheitswesen geben Hilfen beim Sterben, aber keine Hilfen zum Sterben. Ziel ist es, ein Sterben in Würde zu ermöglichen.

Bei Menschen, bei denen der Tod in kurzer Zeit zu erwarten ist, können lebenserhaltende Maßnahmen abgebrochen oder unterlassen werden, wenn dies dem erklärten Willen, ersatzweise dem mutmaßlichen Willen des Betreffenden entspricht. Der mutmaßliche Wille kann nur aufgrund eines vorherigen ernsthaften Dialogs festgestellt werden. In Zweifeslfällen ist immer für den Lebenserhalt zu entscheiden.

Ebenso sind bei Vorliegen des erklärten oder des mutmaßlichen Willens leidensmindernde Maßnahmen, insbesondere eine angemessene Schmerztherapie, zu ergreifen, auch wenn diese eine Lebensverkürzung bewirken können. Maßnahmen, deren Absetzung auch bei nicht Sterbenden zum Tode führen, wie Körperpflege, Freihalten der Atemwege, Flüssigkeitszufuhr und die jeweils notwendige Ernährung, sind in jedem Falle zu gewährleisten. Sie können nur durch den unmittelbar erklärten Willen des Betroffenen abgebrochen werden, nicht durch den mutmaßlichen Willen.

Maßnahmen mit dem Ziel der vorzeitigen Lebensbeendigung und die Hilfe bei der Selbsttötung sind strikt abzulehnen, auch wenn diese vom Patienten erwünscht werden. Unheilbar kranke Menschen sowie Patienten im Wachkoma sind keine Sterbenden.

Alle Behandelnden, die Umgang mit unheilbar Kranken und Sterbenden haben, sind verpflichtet, sich palliativmedizinisch fortzubilden. Dies schließt die Befähigung ein, mit den Betroffenen in einen ehrlichen und einfühlsamen Dialog über ihr Befinden und über ihre Behandlung zu kommen.

9. Medizin und Ökonomie

Menschen, die krank sind oder anderweitig Hilfe benötigen, haben das uneinschränkbare Recht auf gute Behandlung und Versorgung. Kranke und speziell chronisch kranke Menschen werden im Rahmen von Sparpolitik und Kosten-Nutzen-Rechnungen unvertretbaren sozialen Risiken ausgesetzt. Die Solidarität mit den kranken und schwachen Menschen ist der Gradmesser für die Menschlichkeit einer Gesellschaft. Das Leben von Menschen läßt sich nicht gegen andere Güter aufrechnen.

Für eine angemessene Gesundheitsversorgung und für die Sicherung des Sozialsystems sind die notwendigen Mittel bereitzustellen. Die Solidargemeinschaft ist so zu gestalten, daß die Versorgung der sozial Benachteiligten gerade in Krisenzeiten sichergestellt ist. Die Wahrung des Rechts auf gute medizinische Behandlung und Pflege des einzelnen Patienten verbietet es, die solidarischen Beitragspflichten der Gesunden zu reduzieren oder aufzuheben. Die im Gesundheitswesen tätigen Menschen weisen offen und selbstkritisch auf Mängel und Fehlentwicklungen hin und informieren über die Qualität ihrer Arbeit und deren Nutzen für die Patienten und die Gesellschaft.

Maßnahmen am Patienten, die nur kommerziellen Zwecken dienen, dürfen nicht durchgeführt werden.

10. Medizin in einer Welt

Die im Gesundheitswesen tätigen Menschen tragen über nationale und ethnische Grenzen hinweg Verantwortung für alle Kranken und Hilfesuchenden. Für die Opfer von Armut, Kriegen, Vertreibung und Folter sind medizinische, psychische und soziale Hilfen national und international auszubauen. Die im Gesundheitswesen tätigen Menschen beteiligen sich nicht an Maßnahmen, die Folterungen unterstützen, oder an der Realisierung von Todesurteilen.

Der Ausbeutung von Menschen im Namen der Medizin ist Einhalt zu gebieten. Die medizinische Versorgung der Mehrheit der Weltbevölkerung entspricht keineswegs dem erreichten Stand medizinischen Wissens. Der Fortschritt der Medizin muß sich auch an der Gerechtigkeit der Verteilung medizinischer Ressourcen messen lassen. Die Diskrepanz zwischen dem darniederliegenden Gesundheitswesen in zahlreichen armen Ländern der Südhemisphäre und der teuren Hochleistungsmedizin in den reichen Staaten ist zum Wohle der armen Länder zu verringern, um für alle Menschen ein größtmögliches Maß an Gesundheit zu erreichen.

Nürnberg, am 20. August 1997

 


Nachtrag

Der Nürnberger Kodex 1997 wurde erarbeitet unter Mitwirkung von Theresia Adelfinger, Axel Brandt, Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, Dr. Alfred Estelmann,Prof. Dr. Hans Grewel, PD Dr. Bernd Höffken, Stephan Kolb, Prof. Dr. Hans Mausbach, Dr. Eva Schindele, Dr. Horst Seithe, Dr. Helmut Sörgel, Dr. Michael Wunder

Weitere Exemplare des Nürnberger Kodex 1997 erhalten Sie von:

Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)
Körtestraße 10
10967 Berlin
Tel.: 030/693 02 44
Fax.: 030/693 81 66

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