Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/97

Teil 2: "Klare Grenzen für die medizinische Forschung - Nürnberger Kodex 1997"

2. Der „informed consent“ als eine Grundlage des Gesundheitswesens

Die freiwillige und informierte Einwilligung des Patienten nach bestmöglicher Aufklärung („informed consent“) ist eine prinzipielle Grundlage aller Behandlungen im Gesundheitswesen, aller Heilversuche und aller medizinischen Experimente am Menschen. Nur im Falle von Notfallbehandlungen kann diese Zustimmung nachträglich eingeholt werden.

Alle medizinischen Versuche, die einen Nutzen für andere als die Versuchspersonen haben sollen, bedürfen der freiwilligen und informierten Einwilligung in besonderem Maße. Anerkannte Heilbehandlungen, sowie Heilversuche, die einen Nutzen für die betreffende Person haben sollen, können bei nicht einwilligungsfähigen Menschen durchgeführt werden, wenn ersatzweise die informierte Einwilligung des gesetzmäßigen Vertreters nach dessen bestmöglicher Aufklärung vorliegt. Sie dürfen aber nicht durchgeführt werden, wenn der Betroffene sich in Ausübung seines natürlichen Willens widersetzt. An nicht einwilligungsfähigen Menschen dürfen medizinische Versuche ohne Nutzen für die Betroffenen nicht durchgeführt werden. Sie sind an die persönliche, nicht ersetzbare Einwilligung gebunden. Einzige Ausnahme sind noch nicht einwilligungsfähige Kinder, die Wesen und Bedeutung des Versuches noch nicht zu beurteilen vermögen. Für sie können die gesetzlichen Vertreter die Einwilligung zu einem Medizinversuch geben.

Medizinversuche an Menschen in Gefängnissen oder psychiatrischen Einrichtungen sind unzulässig, auch wenn die Betroffenen einwilligungsfähig sind.

3. Art des Menschenversuches

Die Achtung vor der Würde des Menschen ist oberstes Gebot jeder medizinischen Forschung; auch die Freiheit der Forschung findet hier ihre klaren Grenzen. Dies gilt sowohl für den Heilversuch als auch für das nicht-therapeutische Experiment. Für den Schutz von Versuchsteilnehmern muß um so entschiedener gesorgt werden, je abhängiger die betroffenen Personen sind und je weniger sie in der Lage sind, ihre Rechte selbst zu verteidigen. Dazu bedarf es unter anderem eines beständigen offenen Dialogs zwischen Versuchsleiter und Versuchsperson. Die volle Verantwortung für den Versuch bleibt stets beim Versuchsleiter.

Versuche am Menschen müssen stets so angelegt sein, daß sich von ihnen ein gesundheitlicher Gewinn für konkrete Personen oder -gruppen erwarten läßt, der durch andere Methoden nicht erreichbar ist. Die Versuchsergebnisse sind wahrheitsgetreu und vollständig zu veröffentlichen.

Menschenversuche müssen auf bekanntem Wissen aufbauen und dieses nutzen, um unnötige Versuche zu vermeiden. Unnötige körperliche Eingriffe und Belastungen müssen von den betroffenen Personen ferngehalten werden. Menschenversuche müssen so durchgeführt werden, daß die Versuchsteilnehmer jederzeit die Weiterführung des Versuchs verweigern können.

Die Entwicklung von Forschungspräferenzen und die Durchführung von Forschungsprojekten bedürfen gesellschaftlicher Transparenz. Wissenschaftler müssen sich frühzeitig mit den ethischen und sozialen Folgen ihres Tuns auseinandersetzen. Die Finanzierung von Forschungsprojekten muß von der Realisierung eines solchen begleitenden Dialogs mit der Öffentlichkeit abhängig gemacht werden. Ethikkommissionen müssen in einem demokratischen Verfahren eingesetzt und nach paritätischem Prinzip nicht nur mit Fachleuten, sondern auch mit sachkundigen Laien, Vertretern von Betroffenenverbänden oder Selbsthilfegruppen besetzt werden. Entscheidungen der Ethikkommissionen sind für die Antragsteller verbindlich.

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