FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 1. Halbjahr 2016

Inhaltsverzeichnis

Editorial
"Von Psychosomatik, Preisverleihungen, Peers und Projekten - 25 Jahre Stiftung LEBENSNERV"
Selbsterfahrung und Beratung/Therapie in Berlin
333 Kilometer-Spendenlauf für Empowerment
"Kunst und Kultur gehören in die Medizin"
Medical Humanities
Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS) eröffnet
Achtsamkeitsbasierte Therapie - Die historischen Wurzeln von MBSR und MBCT
Erzählen und Zuhören: Heute noch nötig oder möglich?
Modelle von Behinderung – Behinderung neu denken!
Aktuelles aus der Behindertenpolitik der Bundesregierung
Neue Bücher

Liebe Leserinnen und Leser,

große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus:


Weitere Informationen zu beiden Vorhaben finden Sie in diesem Heft.

Wie Sie wissen, versuchen wir immer, den Menschen als Ganzes in den Blick zu nehmen. Dazu passt, dass wir Ihnen in dieser Ausgabe von FORUM PSYCHOSOMATIK die „Medical Humanities“ und den bundesweit ersten Lehrstuhlinhaber dieser Disziplin an der Charité in Berlin vorstellen. In dieser jungen Disziplin geht es darum, auch soziale und kulturelle Komponenten in ärztliches Handeln einzubeziehen. Damit soll der Reduktion von kranken Menschen auf das rein Körperliche entgegengewirkt werden und die Patienten-Subjektivität verstärkt beachtet werden.

In eine ähnliche Richtung weist der gekürzte Vortrag von Wilhelm Rimpau, der die Bedeutung des Sprechens und Zuhörens in der Arzt-Patient-Beziehung betont. Anhand praktischer Beispiele verdeutlicht der Autor, wie aktives Zuhören zum Schlüssel werden kann, um erkrankte Menschen und Krankheitssymptome zu verstehen.

Zum Schluss noch eine gute Nachricht: Das Forschungsprojekt NARDIS, in dem es um den Einfluss des Austausches mit anderen Betroffenen auf die eigene Krankheitswahrnehmung und Entscheidungsfindungen geht, wird nun doch starten können. Vor einem Jahr hatten wir berichtet, dass das Projekt beantragt und wir als Stiftung LEBENSNERV Kooperationspartner bei diesem Forschungsvorhaben seien. Vor einem halben Jahr musste ich an dieser Stelle schreiben, dass das Projekt nicht bewilligt wurde. Nun hat sich doch noch ein Geldgeber gefunden, so dass es losgehen kann. Wir werden Sie auf dem Laufenden halten.

Ich freue mich darauf, viele von Ihnen am 17. September beim Symposium in Berlin zu treffen, und wünsche Ihnen bis dahin eine gute Zeit!

Herzlichst Ihre
Dr. Sigrid Arnade


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"Von Psychosomatik, Preisverleihungen, Peers und Projekten - 25 Jahre Stiftung LEBENSNERV"

Festsaal der Berliner Stadtmission
Lehrter Str. 68 (Nähe Berlin-Hauptbahnhof)
10557 Berlin-Mitte

Programm

10.00 Uhr

Ankommen, Jubiläumskaffee

10.30 - 12.30 Uhr

Begrüßung durch Susanne Same, stv. Stiftungsvorsitzende LEBENSNERV

Videobotschaft von Verena Bentele, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen

Grußworte von Eva-Maria und Andreas Mohn, Andreas-Mohn-Stiftung

Mit Menschenrechten für Gesundheit und Empowerment! - Festvortrag von Prof. Dr. Claudia Lohrenscheit, Hochschule Coburg

25 Jahre LEBENSNERV - Dr. Sigrid Arnade, Stiftungsvorsitzende LEBENSNERV

Einführung in die Thementische durch die Gastgeber*innen

12.30 - 14.00 Uhr

Mittagspause mit Buffet

14.00 - 15.30 Uhr

Thementische: Was bewegt mich - wo sind die Forschungslücken?

Tisch 1: Perspektive 2026, Dr. Sigrid Arnade

Tisch 2: Kognitive Störungen, Dr. Annette Kindlimann

Tisch 3: Leben mit Schmerz, Prof. Dr. Claudia von Braunmühl, Kristian Röttger

Tisch 4: MS und Empowerment, Ines Spilker, Kerstin Wöbbeking

15.30 - 16.00 Uhr

Kaffeepause

16.00 - 16.30 Uhr

Talkrunde zu den Ergebnissen der Thementische

16.30 Uhr

Schlusswort und Ausblick, Dr. Sigrid Arnade, Stiftungsvorsitzende LEBENSNERV

anschließend Ausklang mit Sekt

Durch das Programm führt H.- Günter Heiden, Redakteur FORUM PSYCHOSOMATIK


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Selbsterfahrung und Beratung/Therapie in Berlin

In Berlin-Schöneberg gibt es ein neues Angebot: Irmgard Wallershausen, Gestalttherapeutin und Peer-Counselorin, die seit 2004 mit der Diagnose MS lebt, bietet Seminare, Beratung, Coaching und Therapie an. Über sich schreibt sie: "Die Krankheit hat mein ganzes Leben verändert. Sie zu akzeptieren, war für mich ein langer Prozess... Trotz Einschränkungen fühle ich mich gesund, im Sinne von lebendiger, offener, klarer. In meiner therapeutischen Arbeit ist zum Einen der Ansatz des Peer Counseling sehr zentral, der selbstbestimmt und eigenständig leben unterstützt. Ressourcen erkennen und stärken ist dabei selbstverständlich. Zum Anderen ist die Arbeit von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby für mich unverzichtbar. Dabei geht es vor allem um ein Spüren und Erleben von dem, WAS IST und darauf zu reagieren. In der täglichen Auseinandersetzung mit mir selbst erlebe ich, dass sich nur durch das Annehmen von dem, was gerade ist, (Lösungs-) Möglichkeiten eröffnen, die mir sonst nicht zugänglich wären. Besonders freue ich mich darauf, Menschen mit MS auf ihrem Weg begleiten zu dürfen."

Das nächste Seminar "Selbsterfahrung für Menschen, die an MS erkrankt sind" (Raum mit Treppenlift) beginnt Mitte September 2016. Weitere Informationen bei Irmgard Wallershausen, Tel.: 030/50361484 oder irmwal@gmx.de


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333 Kilometer-Spendenlauf für Empowerment

Am 22. August geht es los: Fünf ArbeitskollegInnen im Alter von 30 bis 60 Jahren laufen über mehrere Stationen von Hamburg nach Berlin, wo sie am 4. September ankommen wollen. Sie selbst sind nicht von MS betroffen, kennen aber Menschen, die mit der Diagnose MS leben. Deshalb hatten sie die Idee: "Wir wollen zu Fuß von Hamburg nach Berlin laufen und mit diesem Laufprojekt Spenden für die Stiftung LEBENSNERV sammeln." Daraufhin haben sie in ihrem Umfeld erst einmal ein ungläubiges Lächeln geerntet, denn der Spendenlauf ist ein Wagnis, auf das sich der Körper erst langsam einstellen muss.

Mit dem Erlös des Laufes soll ein Empowermentprojekt für MS-Betroffene in Hamburg finanziert werden. Mehr Infos zu diesem Projekt findet sich auf der Spendenplattform www.betterplace.org.p42541 oder auch auf Facebook. Dort im Suchfeld MS=Meilenstein eingeben. Infos geben auch Rene Schmidt und Marlies Voigt: meilensteinhamburg@gmail.com


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Die Charité – Universitätsmedizin Berlin hat zum Wintersemester 2015/2016 die bundesweit erste Professur für Medical Humanities eingerichtet. Die zweijährige Stiftungsgastprofessur ist maßgeblicher Teil des Projekts ”GeDenkOrt.Charite – Wissenschaft in Verantwortung” und wird von der Friede Springer Stiftung unterstützt. Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, übernimmt die Professur. Schmiedebach ist Arzt, Medizinhistoriker und -ethiker. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Medizingeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, die Psychiatriegeschichte sowie die Medizinethik. Seit 2003 hat er die Professur für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf inne und leitet dort das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin. ”Uns geht es um eine sinnreiche und notwendige Ergänzung des Curriculums durch die Möglichkeit, kulturwissenschaftliche Themen der Medizin zu erörtern. Dabei öffnen wir die Perspektive der angehenden Ärzte für Disziplinen wie Philosophie, Geschichte, Literatur oder auch die Bildenden und Darstellenden Künste”, erläutert Prof. Schmiedebach die Ausrichtung der neuen Professur.

"Kunst und Kultur gehören in die Medizin"

Interview mit Heinz-Peter Schmiedebach

Im Studium lernen Ärztinnen und Ärzte, den Menschen auf das Körperliche zu reduzieren, meint Heinz-Peter Schmiedebach. Der Medizinethiker erweitert als Professor für Medical Humanities an der Charité die Perspektive, um neue Ressourcen im Umgang mit Krankheit zu erschließen.

Herr Professor Schmiedebach, Sie haben die Stiftungsgastprofessur Medical Humanities an der Charité übernommen. Welche Aufgaben sind damit verbunden?

Schmiedebach: Es geht darum, auf dem Campus in Berlin-Mitte einen Gedenkort mitzugestalten: einen Ort des Innehaltens und der Information über frühere Verbrechen der Medizin und Gefährdungspotenziale heute. In einer interdisziplinären Arbeitsgruppe, die seit Längerem besteht und bereits einiges aufgebaut hat, entwickeln wir das Konzept für den Gedenkort Charité weiter - bis hin zu einzelnen Installationen.

Darauf komme ich nachher zurück. Sie haben auch Aufgaben in der Lehre. Woran knüpfen Sie da an?

Schmiedebach: Die Approbationsordnung sieht seit 2004 den Querschnittsbereich Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin vor. Daran knüpfe ich an und erweitere es um das, was die Medical Humanities ausmacht. Dieser Begriff fasst die nicht naturwissenschaftliche Seite in der Medizin. Die Medical Humanities spielen in der Ausbildung bisher eine geringe Rolle: Die Studierenden werden sechs Jahre lang darauf getrimmt, den Körper als Objekt zu sehen. Die kulturell und sozial geprägte Patienten-Subjektivität gerät dabei in Vergessenheit. Auch die Medizin selbst ist ein Produkt sozialer und kultureller Einflüsse. se. Die Medical Humanities berücksichtigen alle Kulturwissenschaften, zudem die Literaturwissenschaften oder die Sozialwissenschaften. Kunst und Kultur gehören in die Medizin.

Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

Schmiedebach: Ein großes Feld der Medical Humanities ist die Literatur. Thomas Mann beschäftigt sich in seinem Roman ”Der Zauberberg" damit, wie die Tuberkulose auf Psyche und Verhalten der Menschen wirkt. Er beschreibt eine Entsittlichung und Grenzüberschreitung im Angesicht des Todes. Auch in medizinischen Lehrbüchern der zwanziger Jahre finden sich Psychogramme der Tuberkulose-Kranken, in denen die sexuelle Enthemmung eine Rolle spielt. Es gibt also Parallelen zwischen Literatur und medizinischer Lehre. Darüber hinaus schreiben manche Patienten über ihre Krankheit. Darunter sind auch Literaten, wie Christoph Schlingensief und Wolfgang Herrndorf, die in ihren Büchern viel über ihr subjektives Erleben der Krebserkrankung mitteilen. In den USA motivieren Ärzte Patienten, ihre Krankheitserfahrungen aufzuschreiben. Subjektive Elemente der Krankheitserfahrung treten im Gespräch meist nicht zu Tage. Im Schreiben wird der Patient zum wichtigen Akteur in der Krankheitsbewältigung und bietet den Therapeuten eine Möglichkeit, sich mit seiner Subjektivität auseinanderzusetzen.

Wie weit sind andere Länder in den Medical Humanities?

Schmiedebach: In den USA hat das Fach eine längere Tradition. Ärztinnen und Ärzte lernen dort beispielsweise Slow-Looking, indem sie Gemälde aus der frühen Neuzeit oder der Renaissance interpretieren. Damit üben sie das genaue Hinsehen, das im Zeitalter der modernen Medien manchmal verloren geht. Das ist ein Beispiel, in dem die Medical Humanities über Geschichte und Literatur hinausgehen. Es ist ein Versuch, über die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften Ressourcen im Umgang mit Krankheiten zu mobilisieren.

Wie füllen Sie die Medical Humanities an der Charité mit Leben?

Schmiedebach: In der Ringvorlesung Ethik bin ich sowohl in der Organisation als auch mit Vorträgen präsent. Zudem biete ich in diesem Semester zwei Seminare an: eines zur Geschichte von Syphilis und Aids und eines über die Psychiatrie. Ich versuche, in diesen Veranstaltungen die Ansätze der Medical Humanities möglichst weitgehend umzusetzen. So beziehe ich etwa einen Kunsthistoriker oder eine Künstlerin ein, wenn es um die Ikonografie von Syphilis und Aids geht, also die bildliche Darstellung dieser Krankheiten. Das Seminar war für 20 Teilnehmer ausgeschrieben und innerhalb von einer Woche ausgebucht.

Wie schaffen Medizinstudierende es, Ihre Seminare zu besuchen, obwohl sie mit den naturwissenschaftlichen Pflichtfächern bereits gut ausgelastet sind?

Schmiedebach: Meiner Erfahrung nach sind 30 bis 40 Prozent der Medizinstudierenden daran interessiert. Sie sehen die Defizite der Medizin - die Reduktion auf das rein Körperliche. Aber es gibt eben auch 60 bis 70 Prozent Studierende, die sich nicht damit auseinandersetzen wollen. Das liegt zum Teil daran, dass das Lesen von Prosatexten eine große Herausforderung darstellt. Manche Medizinstudenten haben Probleme, aus einer Seite Text die zentrale Aussage herauszufiltern.

Sind diese angehenden Ärztinnen und Ärzte in der Lage, im späteren Berufsalltag komplexe Zusammenhänge zu erfassen?

Schmiedebach: Das ist eine berechtigte Sorge. Die Reduktion von Komplexität führt teilweise nicht zum Ziel: Man macht schnell etwas, lässt sich nichts zu Schulden kommen, aber hilft auch nicht. Manche der Studierenden sind anfällig für diese reduzierte Betrachtung, auch im Umgang mit Patienten. Die Medical Humanities sind kein Allheilmittel, und wir haben nur die ersten Pflänzlein im Curriculum verankert. Wir wollen das aber ausbauen: Künftig soll es beispielsweise Angebote im Zusammenhang mit Promotionen und Habilitationen geben.

Von Humanities komme ich zur Menschlichkeit. Welche Bedeutung hat sie heute in der Medizin?

Schmiedebach: Menschlichkeit zeigt sich in erster Linie darin, Empathie für Patienten zu haben. Das kann man nicht lernen. Aber das, was die Medical Humanities vermitteln, lässt sich lernen: den Patienten als Subjekt und als Persönlichkeit mit einer eigenen Geschichte und eigenem Selbstverständnis ernst zu nehmen. Zwar muss ich als Arzt auch objektivieren und beispielsweise Labor- oder Röntgendaten auswerten. Aber wenn ich mich darauf beschränke, geht Menschlichkeit verloren.

Warum hapert es häufig an Einfühlungsvermögen? Wie ließe sich die Situation verbessern?

Schmiedebach: Diese Aspekte sind in der Ausbildung kaum vertreten. Auch ein Kommunikationstraining vermittelt lediglich Techniken. Manche Ärzte schaffen es nicht einmal, Patienten beim Sprechen anzuschauen. Ein Kommunikationstraining trifft aber nicht den Kern, es verändert die Haltung nicht.

Also den Patienten als Subjekt zu sehen?

Schmiedebach: Genau - und ihn ernst zu nehmen. Als Assistenzarzt war ich selbst einmal hilflos, als eine Patientin sagte: Da ist ein Wulst im Bauch, da ist irgendwas drin. Körperliche Untersuchungen, Ultraschall- und Röntgenbilder zeigten nichts. Dann müsste ich fragen: Was heißt Wulst im Bauch? Wofür kann das eine Metapher sein? Das verlangt Zeit, Fantasie und Übung. Aber nur so werde ich dieser Patientin gerecht.

Wäre es eine Hilfe, die Gesprächszeit besser zu bezahlen?

Schmiedebach: Vielleicht muss sich das Abrechnungssystem ändern. Die ärztliche Arbeit hat sich sehr verdichtet. Als ich 1988 in der Chirurgie arbeitete, konnte ich mir meist ab vier oder fünf Uhr Zeit nehmen, um mit Patienten zu reden. Das ist heute so nicht mehr möglich. Die Medizin ist komplizierter geworden. Hinzu kommen die Dokumentationspflichten. Ich verstehe, was mit den Diagnosis Related Groups beabsichtigt war. Aber dieses Abrechnungssystem richtet sich zum Teil gegen die Interessen der Patienten. Wenn die Politik das Gesundheitswesen einer Ökonomisierung unterwirft, darf sie sich nicht wundern, wenn die Kaufleute im Krankenhaus den Ton angeben: Steigerungsraten festlegen, Stellen kürzen. Ich finde das im Umgang mit kranken Menschen fatal. Aber es ist gewünscht - auch von den Kassen.

Die Sozialversicherung - Sie haben gerade die Kassen erwähnt - ist aber auch ein Ausdruck von Menschlichkeit. Ist das Modell der solidarischen Absicherung für Zeiten von Krankheit und Alter durch die Ökonomisierung gefährdet?

Schmiedebach: Ja, aber nicht nur durch die Ökonomisierung, sondern auch durch die Entwicklung der Medizin. Die Technisierung verteuert die Medizin, vielleicht unter anderem dadurch, dass manches zu häufig angewandt wird. Mit den Herzkatheteruntersuchungen sind Ärzte heute sehr schnell bei der Hand. Bei den Endoprothesen scheint es ähnlich zu sein. Bestimmte Mechanismen treiben die Preise hoch und können ein solidarisches System an die Grenzen bringen.

Wann und wo ist Menschlichkeit in der Medizin in Gefahr? Wo sehen Sie latent destruktive Potenziale der Medizin?

Schmiedebach: Diese latent destruktiven Potenziale sind im Nationalsozialismus am deutlichsten zu Tage getreten: in der Ermordung von Menschen, bei Menschenversuchen. Allerdings bewegt sich die Medizin immer auf einem schmalen Grat. Jede klinische Studie birgt ein Gefährdungspotenzial, das wir in Kauf nehmen, aber reduzieren müssen. Heilen und Zerstören sind in der Medizin untrennbar verbunden, beispielsweise bei Amputationen, Krebsoperationen oder der Anwendung von Medikamenten, die auch gesunde Zellen vernichten.

Zerstören und Heilen kann das Gleiche sein?

Schmiedebach: Es ist vielfach gekoppelt. Das zeigt sich auch in der Sprache, die heute noch im Unterricht und in der Medizin benutzt wird. Sie bekam im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine martialische und aggressive Komponente. Seitdem ist vom Bekämpfen der Bakterien, der Vernichtung des Feindes die Rede. Doch die Rhetorik beeinflusst die Haltung: Es ist dann normal, dass ich vernichte, dass ich bekämpfe - im Interesse des Heilens. Das würde ich gerne auflösen und darauf achten, dass das untrennbar Verbundene nicht diese martialische Gestalt annimmt. Wir müssen überlegen, welche Alternativen wir als Ärzte zu diesem Vernichtungskonzept haben. Müssen wir nicht versuchen, durch andere Lebensformen und neue Therapieziele Gleichgewichtszustände herzustellen? Das wäre ein vollkommen neuer Ansatz, der möglicherweise Ressourcen eröffnet, die wir im Moment noch gar nicht erahnen. Nach wie vor denken wir Ärzte: Da ist der unsichtbare Feind, aber mit unseren jetzigen Waffen ist er nicht mehr zu schlagen.

Die destruktiven Potenziale sind in der Medizin also angelegt?

Schmiedebach: Ja, und in der Zeit des Nationalsozialismus sind sie explodiert, enthemmt durch die Ideologie oder eine falsch verstandene Vaterlandsliebe. Es gab durchaus Ärzte, die den Staat von seinen sozialen Aufgaben entlasten wollten und so Zwangssterilisation oder Ermordung begründeten.

Sie arbeiten deshalb mit an dem Gedenkort für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Charité während des Nationalsozialismus.

Schmiedebach: Im Gedenkort, den wir gemeinsam mit der Universität der Künste aufbauen, stehen die Charité und der Nationalsozialismus im Mittelpunkt. Aber es geht um mehr: darum, anhand der Verbrechen auf die grundsätzlichen Fragen einer Medizin in Verantwortung hinzuweisen und damit einen Bezug zur Gegenwart und zur Zukunft herzustellen. Deswegen ist es gut, das mit der Stiftungsgastprofessor Medical Humanities zu verbinden. Auf einem Pfad, der Teil des Gedenkorts ist und sich über den ganzen Campus zieht, sprechen wir Mitarbeiter wie auch Besucher der Charité mit Infotafeln an verschiedenen Stellen an. Darüber hinaus wollen wir auf dem Gelände ein Kunstwerk etablieren, das die Betrachter berührt.

Quelle: ”Nachdruck aus Gesundheit und Gesellschaft (G+G). Das AOK-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft. Ausgabe 4/2016, 19. Jahrgang”. Die Fragen stellte Änne Töpfer.


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Medical Humanities

Mit dem englischen Begriff "Medical Humanities" wird ein interdisziplinäres Feld an der Schnittstelle von Medizin und den Humanities bezeichnet. Der angelsächsische Begriff der "Humanities" vereint alle Wissenschaften mit Bezug auf den Menschen. Dazu gehören z.B. die Psychologie, Pädagogik und die Geisteswissenschaften (einschließlich Philosophie, Ethik, Geschichts-, Sprach-, Kultur-, Religions- und Literaturwissenschaften sowie Kunstgeschichte). Im Weiteren werden auch die Künste (Literatur, Theater, Film und Bildende Kunst) hinzugezählt. Die Medical Humanities versuchen, Antworten auf beispielsweise folgende Fragen zu geben: Was können sie zur Gesundheitspflege beitragen oder was erzählen sie uns über Kranksein und Gesundheit.

Medical Humanities ist seit einigen Jahren Teil der akademischen Debatte in Deutschland, wenn es um mögliche Defizite in der ärztlichen Ausbildung und der Medizin insgesamt geht. Mit der bundesweit ersten Professur für Medical Humanities erweitert die Charité die Perspektive auf das akademische Feld der Medizin. Das Konzept geht davon aus, dass die Medizin auch von sozialen und kulturellen Komponenten bestimmt ist. Daher benötigten angehende Ärzte auch Kompetenzen, die über die humanbiologischen Kernfächer hinausgehen, um ihrer praktischen Aufgabe in problembewusster und verantwortungsvoller Weise gerecht zu werden. Aktuelle Fragestellungen werden zusätzlich mit einem historischen Blick betrachtet und die Wirkungen und Aspekte der Medizin aus kulturwissenschaftlicher Perspektive thematisiert und unter dem Stichwort „Wissenschaft in Verantwortung“ zukunftsorientiert diskutiert. Dabei sollen auch über die Zeitgrenzen von 1933 und 1945 hinaus latent destruktive Potenziale der Medizin erörtert werden.

Thematisiert werden dabei beispielsweise die Arzt-Patienten-Beziehung oder das Erleben und Bewältigen von Krankheit in unterschiedlichen Kulturen sowie die gesellschaftlichen Konzepte der Medizin in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Ziel ist es, weitere humane und moralische Ressourcen für die Medizin zu erschließen, damit Ärzte unter den aktuellen Bedingungen naturwissenschaftlicher Forschung und medizinischer Praxis fähig sind, eine ihrer professionellen Verantwortung entsprechende kompetente Haltung zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft zu entwickeln.

Quelle: PM Charité


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Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS) eröffnet

BODYS, die neue Forschungseinrichtung der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe (EvH RWL), ist mit einem Festakt am 1. Dezember 2015 eröffnet worden. "Das neue Institut wird ein Meilenstein für die Entwicklung der Forschung an der Hochschule sein", betonte Rektor Prof. Dr. Gerhard K. Schäfer in seiner Begrüßung. Weiteres Ziel, so Schäfer, sei die Förderung behinderter NachwuchswissenschaftlerInnen, denn in der Vergangenheit seien behinderte Menschen allzuoft nur Objekte und nicht Subjekte der Forschung gewesen.

Die Landesbehindertenbeauftragte Elisabeth Veldhues hob die Unterstützung der Landesregierung NRW für das neue Institut hervor: "Gemeinsam können wir die Barrieren aus der Welt schaffen, die behinderte Menschen daran hindern, gleichberechtigt mit anderen und selbstbestimmt zu leben."

BODYS ist ein Institut, das Disability Studies (DS) als inter- und transdisziplinäre theoretische Grundlage für die UN-Behindertenrechtskonvention und deren Auswirkungen für Theorie und Praxis, für die Behindertenhilfe und für die Gesellschaft insgesamt versteht. BODYS bietet den Rahmen für menschenrechtsorientierte, partizipative und intersektionale Forschung.

Disability Studies (DS) gebe es international zwar schon seit über 30 Jahren, so die Leiterin von BODYS, Prof. Dr. Theresia Degener, in Deutschland sei diese Forschungsrichtung mit erst drei Instituten aber noch sehr jung. "Disability Studies verstehen Behinderung als soziales Konstrukt, das durch architektonische und kulturelle Barrieren entsteht", führte Degner aus. "Sie kritisieren die Sonderwelten für behinderte Menschen und setzen dem medizinischen Modell von Behinderung ein soziales und menschenrechtliches Modell entgegen. Damit unterscheiden sie sich deutlich von den herkömmlichen Behinderungs- und traditionellen Rehabilitationswissenschaften oder einer reinen 'Versorgungsforschung' ".

http://bodys.evh-bochum.de

HGH


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Achtsamkeitsbasierte Therapie - Die historischen Wurzeln von MBSR und MBCT*

von Petra Meibert

Die Wurzeln und Hintergründe von MBSR

Achtsamkeit ist eine allgemeinmenschliche Fähigkeit, die jeder durch Übung in sich kultivieren kann, jenseits religiöser oder weltanschaulicher Sichtweisen. Jon Kabat-Zinn, der maßgeblich an der Entwicklung und Verbreitung achtsamkeitsbasierter Ansätze im klinischen Kontext beteiligt ist, beschreibt Achtsamkeit folgendermaßen: „Achtsamkeit ist eine besondere Form der Aufmerksamkeit. Einfach gesagt bedeutet Achtsamkeit nicht urteilendes Gewahrsein von Moment zu Moment. Wir kultivieren Achtsamkeit, indem wir bewusst im gegenwärtigen Augenblick aufmerksam sind. Dabei beurteilen wir unsere Erfahrung nicht nach gut oder schlecht oder danach, ob wir die Erfahrung mögen oder nicht mögen“.

Achtsam zu sein bedeutet also, das, was im gegenwärtigen Moment geschieht, aufmerksam und bewusst wahrzunehmen. Dazu gehören sowohl die eigenen Gedanken, Gefühle und körperlichen Empfindungen als auch Sinnesreize aus der Umgebung und das achtsame Gewahrsein selbst. Mit der Intention, Achtsamkeit zur Stressbewältigung und zum Umgang mit den Widrigkeiten des Lebens jedem Menschen zugänglich zu machen, entwickelte der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn Ende der 1970er Jahre an der Medizinischen Fakultät der Universität von Massachusetts in Worcester das heute als MBSR bekannte 8-Wochen Programm. Auf der Basis seiner eigenen intensiven Erfahrungen mit Meditationsübungen aus der Zen- und Vipassana-Tradition sowie Hatha Yoga, ging es ihm um die Frage, wie sich diese alten Traditionen der Bewusstseinsentwicklung unter den in der westlichen Welt vorherrschenden Bedingungen als komplementäres Angebot in die Medizin einführen ließen. MBSR bietet Hilfe für Menschen mit chronischen, körperlichen Krankheiten, insbesondere Schmerzerkrankungen als begleitendes Programm. So ist die Übersetzung der Frage nach den heilsamen und unheilsamen Aspekten unseres Verhaltens aus der buddhistischen Psychologie in die Anwendung von Achtsamkeit in der westlichen Medizin und Psychologie, die Frage nach stressverschärfenden und stressreduzierenden Faktoren (Gedanken, Gefühlen, Handlungsimpulsen).

Ein wichtiger Aspekt der Wirkung von Achtsamkeit im klinischen Kontext ist die Ressourcenaktivierung. Durch die bewusste Hinwendung zum Hier und Jetzt und das Erleben der Reichhaltigkeit jedes einzelnen Augenblicks, können Ressourcen in uns wiedererweckt werden, zu denen wir im Stress den Zugang leicht verlieren.

Durch die Übung der Achtsamkeit im Alltag bekommen Menschen mit chronischen körperlichen oder psychischen Problemen wieder mehr Zugang zu dem, was gut ist in ihrem Leben. Sie können erkennen, dass neben dem, was Leid verursacht, auch vieles da ist, was stärkt und Freude bereitet. Dieser Zugang wiederum kann die Selbstheilungskräfte aktivieren und zu einer verbesserten Lebensqualität beitragen. Dies zeigen auch die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen z.B. aus dem Bereich der chronischen Schmerzerkrankungen. Durch das regelmäßige Üben von Achtsamkeit verbessert sich die Lebensqualität signifikant. Achtsamkeitsübungen sind immer körperbetont, und die Wechselbeziehung zwischen körperlichen und emotional-kognitiven Prozessen und deren bewusste Erforschung ist ein wichtiges Prinzip und Ziel achtsamkeitsbasierter Ansätze. Von daher kann die Praxis der Achtsamkeit in Zukunft als therapeutisches Leitprinzip im Rahmen eines modernen, ganzheitlichen Ansatzes eine wichtige Rolle spielen.

Die Wurzeln und Hintergründe von MBCT

Einer der am meisten beforschten, störungsspezifischen, achtsamkeitsbasierten Ansätze ist MBCT, eine Gruppenintervention, die auf die spezifische Vulnerabilität von Menschen mit rezidivierender (wiederkehrender) Depression zugeschnitten ist. Ausgehend von dem Auftrag, eine Erhaltungsform der kognitiven Therapie zu entwickeln, suchten die drei Professoren Mark Williams, Zindal Segal und John Teasdale nach einer zuverlässigen Methode, das Rückfallrisiko für Menschen mit einer Depression in der Vorgeschichte zu reduzieren. Im Rahmen ihrer Suche stießen sie auf den Achtsamkeitsansatz von Kabat-Zinn, den sie zunächst als eine Methode zur Aufmerksamkeitssteuerung verstanden. Erst nachdem sie sich selbst auf die Praxis der Achtsamkeit eingelassen hatten, so wie es von Kabat-Zinn und seinen Kollegen empfohlen wurde, entwickelten sie ein inneres Verständnis für die Vermittlung von Achtsamkeit und wie sie helfen kann, mit schwierigen Gedanken und Gefühlen, die einen depressiven Rückfall auslösen können, anders umzugehen. Diese Form der Arbeit mit depressiven Patienten unterschied sich maßgeblich von dem bisherigen Ansatz der Kognitiven Therapie. So entwickelten Segal und Kollegen eine grundlegend neue Form der Gruppenintervention, die die Kernübungen des MBSR-Programms zur Entwicklung von Achtsamkeit mit Übungen und Theorien aus der kognitiven Verhaltenstherapie verbindet.

„In den darauffolgenden Jahren würden wir demnach radikal von jener Form der Kognitiven Therapie abweichen, in der wir ausgebildet worden waren“ (Segal et al.). Dieses Programm ist heute im deutschen Sprachraum als Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie (MBCT) (Segal et al.) bekannt. Kernkompetenzen, die im Rahmen von MBCT entwickelt und gestärkt werden sollen, sind das Erkennen von Frühwarnsymptomen für einen drohenden Rückfall, die Fähigkeit, sich von negativen Gedanken zu distanzieren, Grübelschleifen rechtzeitig zu erkennen und aus ihnen auszusteigen sowie eine Haltung von Freundlichkeit und Akzeptanz sich selbst und allen Erfahrungen gegenüber zu entwickeln. Die empirischen Studien zeigen, dass MBCT das Rückfallrisiko für Menschen, die schon unter mehreren depressiven Episoden gelitten haben, um ca. 50% reduziert. Auch zeigen neuere Studien, dass die Teilnahme an einem MBCT-Programm in Bezug auf die Rückfallprävention ebenso wirksam zu sein scheint, wie eine medikamentöse Erhaltungstherapie. Neben diesen guten Effekten ist MBCT als Gruppenintervention auch eine kostengünstige Alternative zur Erhaltungstherapie im Einzelsetting.

* MBSR = Mindfulness-Based-Stress-Reduction; MBCT = Mindfulness-Based-Cognitive-Therapie

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine Leseprobe aus: Petra Meibert "Achtsamkeitsbasierte Therapie und Stressreduktion MBCT/MBSR", Reinhardt-Verlag, München 2016 (vgl. auch die Besprechung in dieser Ausgabe auf Seite 32)


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Erzählen und Zuhören: Heute noch nötig oder möglich?

von Wilhelm Rimpau

Gibt es noch den Raum und die Zeit für eine Begegnung, für das Gespräch mit einem Patienten angesichts der Ökonomisierung unseres Gesundheitswesens? Werden die sogenannten sozialen Medien das Verhältnis von Arzt und Patienten verändern, eine zwischenmenschliche Beziehung gar überflüssig machen? Wie oft habe ich junge Menschen beraten, die mit unspezifischen Beschwerden in den Kernspin geraten, der von nicht ausreichend neuroradiologisch geschulten Kollegen bedient, das Ergebnis ”weißer Flecken” im Marklager erbrachte mit dem Hinweis, man müsse deswegen eine MS ausschließen. Wir haben mehr junge Menschen mit dieser hahnebüchenen Pseudodiagnose beraten und trösten müssen, als solche, die nun wirklich eine Multiple Sklerose hatten. Welche Not haben diese jungen Menschen, wenn sie Google nach ”weißen Flecken” im Marklager oder nach MS absuchen. Über Stunden und Tage werden sie mehr als 2000 Seiten finden. Sie werden depressiv und kommen völlig verzweifelt in die Sprechstunde. Hat jemand wirklich eine Multiple Sklerose, so bleibt er/sie gut beraten, eben nicht in Google nach Ratschlägen zu suchen, sondern in guten Aufklärungsschriften.

Kommunikation im modernen Medizinbetrieb

Bei heutigen Fortbildungsveranstaltungen oder wissenschaftlichen Vorträgen fällt auf, dass vom Gespräch gar nicht mehr, dafür von Interview, Fragebogen, besser noch Checklisten gesprochen wird, wenn es um die Registrierung von Anamnesedaten geht. Eine Dissertation ”Entwicklungsdifferenzen der Anamnese- und Interviewkultur in Psychiatrie und Psychosomatik im 20. Jahrhundert” kommt zu dem Ergebnis, dass in Zeiten der ”Evidence-based Medicine” und ”Diagnoses-related groups” die Anamnese in den Hintergrund gedrängt wurde, also selbst in der Psychiatrie und Psychosomatik, Fächern, in denen das Miteinandersprechen zum wesentlichsten diagnostischen und therapeutischen Instrumentarium gehört. Es geht stattdessen um dokumentations- und datenverarbeitungsfreundliche operationale diagnostische Systeme wie dem sogenannten DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). Nicht mehr die Gesprächskultur wie zu Freuds und Viktor von Weizsäckers Zeiten mit dem Ziel der Aneignung der individuellen Lebensgeschichte, sondern das strukturierte Interview dient lediglich der bislang geringen diagnostischen Übereinstimmung der Kliniken. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht die Beziehung zwischen Patient und Therapeut, insbesondere das Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen. Biografische Erinnerungen geraten eher in den Verdacht, im Dienste des Widerstands gegen die Übertragungsbeziehung zu stehen. Die Geschichte eines Patienten tritt in den Hintergrund zugunsten einer Informationsgewinnung im technokratischen Sinne als Pfeiler einer Antwortenrationalisierung und einer an Klassifikation und medikamentöser Indikation orientierten Diagnostik. Die `eigentliche´ Krankengeschichte kann damit kein Thema mehr sein. Und ist das nicht nur in der Psychiatrie / Psychosomatik, sondern vermutlich in den anderen klinischen Fächern ebenso?

Die "eigentliche" Krankheitsgeschichte

Ich erzähle im Folgenden von Kranken, bei denen aktives Zuhören zum Schlüssel wurde und wir so hinter den körperlichen Symptomen die ”eigentliche” Krankengeschichte verstanden.

Eine Studentin erwacht eines Nachts mit heftigem Drehschwindel. Der HNO-Arzt diagnostiziert eine Neuronitis vestibularis und legt Infusionen an, die nichts helfen. Ich kann die Diagnose bestätigen, nicht aber die Therapie. Ihr Freund hatte sie gedrängt, einen Neurologen aufzusuchen. Sie ist anfänglich zurückhaltend und verwundert, was ich – scheinbar – alles wissen will, später wird sie kommentieren: "das hat mich noch nie jemand gefragt". Warum der Freund sie gedrängt hat? Kam sie nicht selbst auf die Idee, jemand anderen um Rat zu fragen, wo doch die Therapie nicht angeschlagen war? Sie fängt an zu erzählen. Der Freund ist eher dominierend und glaubt sie mit Imponiergehabe zu beeindrucken. Er ist auch jemand, ”der weiß, wo es lang geht”, also folgt sie seinem Rat und kommt in meine Sprechstunde. Sie spürt, dass mich ihre Geschichte mit dem Freund interessiert, obwohl ich außer ”ach so” oder ”hmm” gar nichts frage. Ihr Redefluss kommt in Fahrt. Es werden Konflikte deutlich. Sie lebt zu Haus bei ihren Eltern in Ostberlin. Dort ist es nicht einfach, einen ”Wessi” als Freund zu haben. Sie kann es kaum ertragen, von ihm immer ”ausgehalten” zu werden und nicht selbst die nächste Restaurantrechnung zu bezahlen. Sie fühlt sich abhängig. Ihre Großeltern ”verwöhnen” sie mit Taschengeld, das sie ihr nun vorzuenthalten drohen, weil ihnen der Freund nicht passt. Schließlich erzählt sie von den Schwierigkeiten ihrer Eltern, ein Geheimnis, das nur sie kennt. Der Vater habe die ”Wende” nicht meistern können. Arbeitslos geworden tut er jeden Morgen so, als ginge er einem Beruf nach ohne seiner Frau die als Blamage erlebte Arbeitslosigkeit zu gestehen. In den folgenden Wochen, in denen immer mal wieder Schwindelattacken auftraten, kann ich ihr zu einem kleinen Stipendium verhelfen. Mit der ersten Auszahlung ist der Schwindel vorbei. Der Freund wird entlassen, sie zieht in eine eigene Wohnung und die Schwindelei des Vaters ist nicht länger ihr Problem. Ich erinnere nicht, ob ihr selbst die Idee kam, dass Schwindel in ihrer Geschichte in einem Doppelsinn in ihr Leben eingegriffen hatte: einmal als Entzündung ihres Vestibularisnerv, dann als der Vater und schwindelnde Ehemann und vielleicht auch als sie selbst, die sich etwas vorgemacht hatte und nun enttäuscht war von einem dominierenden Freund und Taschengeldverlust.

Viktor von Weizsäcker spricht in diesem Zusammenhang von ”Weggenossenschaft von Arzt und Kranken”. Der Arzt begegnet dem Kranken ebenso im ”eigentlichen” wie im naturwissenschaftlichen Stadium. In unserem Falle eine auch durch Schwindeleien gekennzeichnete Biographie und ein Nervendefekt, der Drehschwindel verursacht. Die Geschichte vom Schwindel der Studentin ist ein Beispiel, 'etwas zu verstehen' und 'jemand zu verstehen'.

Eine nächste Kasuistik als Beispiel für den biographischen Sinn von Krankheit:

Ich werde morgens bei Dienstantritt in die Rettungsstelle gerufen und finde dort die mir aus meiner Epilepsiesprechstunde bekannte 43 jährige Frau H. Infolge eines Schlaganfalls hatte sie eine Epilepsie mit Jackson-Anfällen entwickelt. Diese waren einfach zu behandeln und Frau H. war über Jahre anfallsfrei. Jetzt lag sie auf einer Untersuchungsliege und bot einen hysterischen Anfall, der klinisch den früheren Jackson-Anfällen ähnelte. Der Anfall löst bei mir Mitleid aus und ich habe sie gestreichelt und getröstet und gesagt, dass ich sie verstanden habe. Nach Minuten klang der Anfall ab. Ich befreite uns aus dem Trubel der Rettungsstellen und fuhr sie auf der Trage in mein Sprechzimmer, das auch ihr vertraut war. Nicht jeder Arzt befördert Kranke durch das Haus und nicht in jedem Arztzimmer riecht es nach Pfeifentabak. Wir sprachen zunächst kein Wort. Sie wandte sich ab, fing an zu schluchzen, schließlich weinte sie. Nach Minuten sprudelt es los: sie erzählt von ihrer Ehe u.a. von dem Glück gemeinsamen leidenschaftlichen Tanzens und nun der Scham, mit ihrer Halbseitenlähmung und schiefem Gesicht nicht mehr die attraktive Frau zu sein, die ihr Mann liebte. Sie hatte ihm "erlaubt", einmal in der Woche ein Bordell zu besuchen. Not, Wut, Verzweiflung, Enttäuschung kennzeichnen die folgende Viertelstunde. Ich hatte sie während des Anfalls um Zustimmung gebeten, ob ich diesen filmen darf. Jetzt bot ich ihr an, gemeinsam mit ihrem Mann ein Gespräch zu führen. Tage später war es so weit: Ich bot Zeit und Raum und blieb Zeuge einer Konfrontation zwischen den Eheleuten, im wesentlichen Anklagen der Frau und Betroffenheit des Mannes. Unter dem Eindruck der Filmszene des Anfalls verstummte der Mann. Grußlos verließ er mein Zimmer. Wenige Tage später, es war ein Sonntagabend und ich hatte Dienst: ich wurde auf die Intensivstation gerufen, ein Patient wolle mich sprechen. Der Ehemann war vor einigen Stunden mit Verdacht auf Herzinfarkt und Angina pectoris Symptomen eingeliefert worden. Im folgenden Jahr hat unsere Kranke keine weiteren epileptischen noch hysterischen Anfälle mehr erlitten. Bei ihrem Mann konnte ein Herzinfarkt ausgeschlossen werden und er ist nicht wieder ins Bordell gegangen.

In seinem Aufsatz ”Die Medizin im Streit der Fakultäten” findet sich eine Bemerkung Weizsäckers, die – wie ich finde – in den Zusammenhang mit diesen beiden zu Herzen gehenden Krankengeschichten gehört: ”Zuerst hatten die Ärzte einmal zu lernen, wie man seelisch bedingte Leiden [– hier die hysterischen Anfälle –] von körperlichen unterscheiden kann [– hier die Jackson-Anfälle –] und das hieß doch beides trennen. Dann kommt erst der andere Schritt: auch in jeder körperlichen Krankheit [– hier die Angina pectoris –] sei die psychische Ursache, der biographische Sinn, die unbewußte List, die Weisheit oder Bosheit der Materie selbst zu erkennen, und das hieß doch: beides (Körper und Geist) wieder zu vereinigen". Und wenig später: ”Jene Überwältigung eines Menschen durch den Leib und die Entdeckung, wie hoch die Begabung des Leibes doch sei – das sind ja nur zwei Seiten derselben Sache: die Natur ist beredt.” Sie erinnern sich: In der Fallgeschichte eben wurde wenig gesprochen, mehr körperlich agiert.

Die folgende Geschichte ist typisch für Ostberlin nach der Wende:

Informationen müssen Frau S. "aus der Nase gezogen werden". Einsilbig berichtet sie in kurzen Sätzen. Dies ist keine Erzählung. Nach der Wende arbeitslos geworden, betreibt sie einen kleinen Blumenladen, in dem auch ihr ansonsten arbeitsloser Mann mithilft. Dieser stellt sich aber ungeschickt an und erfüllt nicht die Erwartungen seiner Frau, die gewissenhaft, sauber, pingelig den Laden führt. Abwertend berichtet sie von ihm und ihrer Enttäuschung nach der Wende und den jetzigen Lebensbedingungen. Soziale Strukturen sind, insbesondere seit dem die Kinder das Haus verlassen haben, zusammengebrochen. Als Privatpatientin hat sie seit ihrem 40. Lebensjahr etwa 15 Ärzte aufgesucht, wurde wegen ”Nacken-Schulter-Schmerzen” einmal an der linken Schulter, zweimal an der rechten Schulter operiert, bekam Cortison-Spritzen, Schanz´sche Krawatte, ”Einrenkungen”. Die Nacken-Hinterkopfschmerzen sind immer schlimmer geworden. Frau S. wirkt abgehärmt, verzweifelt und enttäuscht, sie leidet. Ein Spontangespräch kommt zögernd in Gang als ich euphemistisch meine, eigentlich nicht recht gewusst zu haben, wie ich mit ihr reden könnte. Auf dem Nachttisch liegt ein Liebesroman. Unmittelbar vor dem verabredeten Krankenhausaufenthalt war sie beim Friseur gewesen. Der neurologische Untersuchungsbefund ist unauffällig. Frau S. leidet auf dem Boden einer Melancholie, seit der politischen und damit für sie sozialen Wende 1989 an einer manifesten Depression.

Achten wir hier nur auf den mühsamen Dialog, so ergibt sich, dass das Wenige, was die Kranke sagt, und die Pausen nicht alles sind. Auch ihr häufiges Schweigen scheint unbewusst. Wie komme ich in Kontakt mit ihr? Was will sie eigentlich? Soll ich nur der 16. Arzt sein, der mit Einrenkungen reagieren kann? Verstehe ich, was gemeint ist? Sagt die Kranke, was sie meint? Ist es nicht eher die Atmosphäre, die unser Zusammensein prägt, das unmittelbar aufkommende Gefühl, da leidet jemand, ohne es benennen zu können. Erstaunlich, was sie sich antat, als sie sich einige Male operieren, spritzen, einrenken und damit gewaltsam behandeln, ja misshandeln ließ. Ein Liebesroman auf dem Nachttisch und ein Friseurbesuch vor der Krankenhausaufnahme mögen Ausdruck einer Sehnsucht nach einem glücklicheren Leben sein, welches ihr nicht möglich war. Wir konnten nicht entdecken, ob im Krankwerden eine Stellvertretung zu beobachten, eine Flucht in die Krankheit, gar ein Gewinn in der Krankheit zu vermuten war. Eine lebensbegleitende Melancholie kann vielleicht kommentiert werden mit Weizsäckers Satz ”So ist das also”. Unsere Patientin hat Vertrauen entwickeln können. Für jetzt reichte es mit Weizsäcker "Ja, aber nicht so" zu sagen und im Vertrauen auf uns regelmäßig Medikamente zu nehmen. Dies Beispiel steht für die Abkehr von einem unsinnigen Medizinbetrieb, in dem Körpersymptome einer Depression nicht mehr erkannt werden und Misshandlung stattfindet. Oder ist es doch ein Beispiel für 'eine neue Medizin', in der das 'Ja, aber nicht so' ein zentraler Gedanke ist?

Quelle: gekürzte Fassung eines Vortrags von Prof. Dr. med. Wilhelm Rimpau bei der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft am 24. Oktober 2014 in Heidelberg. Prof. Dr. med. Wilhelm Rimpau ist Arzt für Neurologie und war nach Stationen im Klinikum Westend und Krankenhaus Am Urban in Berlin, dem Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke und bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2008 Chefarzt an der Park-Klinik Weißensee in Berlin. Literatur ist beim Autor erhältlich (wr@wilhelm-rimpau.de).


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Modelle von Behinderung – Behinderung neu denken!

von Sigrid Arnade

"Was soll das?", werden Sie vielleicht fragen und sich denken „wenn ich behindert bin, ist das anstrengend genug. Was soll ich mir auch noch Gedanken zu theoretischen Modellen von Behinderung machen? Davon werde ich auch nicht weniger behindert!“ Bei Letzterem muss ich Ihnen Recht geben. Und trotzdem lohnt es sich meiner Ansicht nach, sich mit dem Thema zu beschäftigen, weil sich dadurch die eigene Einstellung zu Behinderungen ändern kann und behinderte Menschen möglicherweise mehr Selbstbewusstsein entwickeln können.

In diesem Jahr wird die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zehn Jahre alt, und aus diesem Anlass möchte ich die Entwicklung vom medizinischen über das soziale Modell von Behinderung bis hin zum menschenrechtlichen Modell skizzieren, denn die letzte Stufe ist erst mit der UN-BRK realisiert worden.

Fangen wir also mit dem medizinischen Modell von Behinderung an: Danach ist der Blick auf das jeweilige Defizit gerichtet, auf die körperliche, seelische oder geistige Beeinträchtigung eines Menschen. Der eine kann nicht gut oder gar nicht laufen, die nächste nicht so gut sehen oder hören, wieder eine andere kann nicht so schnell denken oder hat eine psychische Krankheit. Nach dem medizinischen Modell wird diese individuelle Beeinträchtigung für die eingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe der Betroffenen verantwortlich gemacht.

Dem haben behinderte Menschen selbst seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts das soziale Modell von Behinderung entgegengesetzt. Sie haben gezeigt, dass ihr gesellschaftlicher Ausschluss weniger in ihrem jeweiligen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand begründet liegt, sondern vielmehr in den allgegenwärtigen Barrieren in der Umwelt: Das sind zum Beispiel Stufen, fehlende barrierefreie Toiletten, fehlende Informationen in alternativen Formaten für Menschen mit Seh- und Hörbehinderungen oder Lernschwierigkeiten.

Anhand des Beispiels von Straßenbahnen kann man den Unterschied zwischen dem medizinischen und dem sozialen Modell von Behinderung gut erklären: Wenn ein rollstuhlfahrender Mensch eine Hochflurstraßenbahn mit Stufen nicht besteigen kann, so macht das medizinische Modell die Unfähigkeit dieser Person zu laufen und zu klettern dafür verantwortlich, dass der betroffene Mensch nicht mitfahren kann. Nach dem sozialen Modell von Behinderung liegt der Ausschluss nicht in der einzelnen Person begründet, sondern in der Fehlkonstruktion der Straßenbahn: Alle öffentlichen Verkehrsmittel müssen so gebaut werden, dass alle Bürgerinnen und Bürger sie nutzen können. Mit einer Niederflurstraßenbahn, die einen stufenlosen Einstieg ermöglicht, können alle Fahrgäste ihr Ziel erreichen. Das soziale Modell von Behinderung wurde Ende der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts durch einen Slogan der Aktion Grundgesetz (einer Kampagne der seinerzeitigen Aktion Sorgenkind, heute Aktion Mensch) zusammengefasst: "Behindert ist man nicht, behindert wird man".

Das soziale Modell von Behinderung stand auch Pate bei den Vereinten Nationen, als Anfang 2004 der erste Entwurf für eine Behindertenrechtskonvention formuliert wurde. Im Laufe der Verhandlungen wurde das soziale Modell jedoch weiterentwickelt zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung.

Während das soziale Modell den Schutz vor Diskriminierungen einfordert und als Wegbereiter für Gesetze gelten kann, deren Ziel es ist, Barrieren abzubauen oder allen Kindern mit und ohne Behinderungen den gemeinsamen Schulbesuch zu ermöglichen, geht das menschenrechtliche Modell weiter. Die Staaten, die die UN-BRK ratifiziert haben, verpflichten sich damit nicht nur, vor Diskriminierungen zu schützen (Forderung des sozialen Modells), sondern auch zu effektiven Maßnahmen der Sozialpolitik, um beispielsweise soziale Sicherheit und einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten. Diese Ergänzung der reinen Antidiskriminierungspolitik um die Verpflichtung zu aktiven Schritten, damit behinderte Menschen alle Menschenrechte gleichberechtigt wahrnehmen können, macht den Unterschied aus zwischen dem sozialen und dem menschenrechtlichen Modell von Behinderung.

Mit der UN-Behindertenrechtskonvention ist es nicht nur gelungen, alle behinderten Menschen unabhängig von Art und Schwere ihrer jeweiligen Beeinträchtigung als Träger*innen unveräußerlicher Menschenrechte zu definieren, sondern auch, Behinderung als Aspekt menschlicher Vielfalt zu würdigen. Während das soziale Modell von Behinderung die teilweise schmerzhaften und einschränkenden Auswirkungen von Beeinträchtigungen ausblendet, setzt das menschenrechtliche Modell auf die Akzeptanz und Wertschätzung eines Lebens mit Behinderung. Oder anders ausgedrückt: Ohne behinderte Menschen würde der Gesellschaft etwas fehlen.

Diese Botschaft ist meiner Meinung nach dazu angetan, zwar weiterhin als behinderter Mensch, aber erhobenen Hauptes das eigene Leben zu gestalten. Behinderte Menschen werden nicht länger als Belastung empfunden und bezeichnet, sondern als selbstverständlicher Bestandteil und Bereicherung in einer Gesellschaft der Vielfalt.


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Aktuelles aus der Behindertenpolitik der Bundesregierung

von Sigrid Arnade

Zwei Gesetze, die für behinderte Menschen wichtig sind, wurden beziehungsweise werden in dieser Legislaturperiode reformiert: Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) von 2002 ist überarbeitet worden und tritt in der neuen Fassung zum 1. Juli 2016 in Kraft. Das große behindertenpolitische Vorhaben für diese Legislaturperiode ist jedoch die Reform der Eingliederungshilfe: Laut Koalitionsvertrag der großen Koalition vom Herbst 2013 soll die Eingliederungshilfe, die bislang in der Sozialhilfe verortet ist, aus dem Fürsorgesystem herausgelöst und zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwickelt werden. Derzeit liegt ein Gesetzentwurf zum sogenannten Bundesteilhabegesetz (BTHG) des zuständigen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) vor. Das Gesetz soll planmäßig im Herbst verabschiedet werden und zum 1. Januar 2017 in Kraft treten. Grund genug für die Redaktion von FORUM PSYCHOSOMATIK, sich mit den beiden Gesetzeswerken zu beschäftigen.

Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) regelt im Wesentlichen die Barrierefreiheit von Bundesbehörden. Das Leben von Menschen mit und ohne Behinderungen spielt sich jedoch überwiegend außerhalb von Bundesbehörden ab, und da ist Barrierefreiheit bislang noch nicht durchgehend vorgeschrieben.

Um auch die Barrierefreiheit von privaten Anbietern von Gütern und Dienstleistungen zu fördern, hatte der Gesetzgeber 2002 das Instrument der Zielvereinbarung im BGG eingeführt. Danach sollten Behindertenverbände mit den privaten Anbietern verhandeln und Zielvereinbarungen zur Herstellung von Barrierefreiheit verabschieden. Die Praxis hat jedoch gezeigt, dass das Instrument nicht funktioniert, weil die Unternehmen immer am längeren Hebel sitzen und nicht zum Abschluss von Zielvereinbarungen gezwungen werden können. Im Laufe des Gesetzgebungsprozesses zur Novellierung des BGG ist eine Vielzahl von Vorschlägen unterbreitet worden, wie auch die Privatwirtschaft verstärkt zur Barrierefreiheit verpflichtet werden könnte, zum Beispiel durch die zwingende Bindung öffentlicher Zuschüsse, Förderungen oder sonstiger Leistungen an das Kriterium der Barrierefreiheit. Leider ist kein einziger der Vorschläge umgesetzt worden.

Aber nicht alles ist schlecht am neuen BGG: Der Behinderungsbegriff ist neu definiert worden und entspricht jetzt mehr dem Behinderungsbegriff der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Außerdem sind die sogenannten „angemessenen Vorkehrungen“ eingeführt und ihre Verweigerung als Benachteiligung definiert worden. Angemessene Vorkehrungen sind das Gegenstück zur Barrierefreiheit: Während Barrierefreiheit von vorneherein für alle Menschen hergestellt wird, beziehen sich angemessene Vorkehrungen immer auf den Einzelfall. Wenn beispielsweise jemand eine ergonomische Tastatur am Computer braucht, ist das eine angemessene Vorkehrung. Leider bezieht sich die Verpflichtung, angemessene Vorkehrungen bei Bedarf bereitzustellen, wieder nur auf Bundesbehörden.

Positiv beim BGG ist auch die Einrichtung einer Schlichtungsstelle bei der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen zu bewerten. Es gibt zwar die Verbandsklage, die bislang aber nur selten in Anspruch genommen wurde. Deshalb kann die Schlichtungsstelle eventuell helfen, niedrigschwellig Konflikte um Barrierefreiheit zu lösen.

Besonders interessant aus der Perspektive behinderter Menschen und ihrer Verbände ist der neue § 19: "Förderung der Partizipation". Damit ist die finanzielle Förderung der Partizipation von Organisationen behinderter Menschen, insbesondere von Selbstvertretungsorganisationen, gesetzlich verankert. Weitere Details werden in einer Förderrichtlinie geklärt.

Während man beim BGG noch Licht und Schatten ausmachen konnte, sehen viele behinderte Menschen und ihre Verbände nur noch schwarz, wenn sie einen Blick in den Referentenentwurf zum Bundesteilhabegesetz (BTHG) werfen. Anhand von drei Knackpunkten möchte ich im Folgenden die ablehnende Haltung vieler Betroffener und ihrer Verbände erläutern:

Der Name des Gesetzes "2Bundesteilhabegesetz" ist jedenfalls irreführend. Korrekter wäre es, von einem "Bundesspargesetz" zu sprechen, denn es wird zu Leistungseinschränkungen und Leistungskürzungen kommen, wenn dieses Gesetz in seiner jetzigen Ausgestaltung in Kraft tritt. Dann wird ein schlechtes altes Gesetz durch ein noch schlechteres neues Gesetz ersetzt.

Doch allenthalben regt sich Widerstand, zum Beispiel die Twitter-Aktion #nichtmeingesetz oder die Kampagne „BTHG – so nicht!“ des Paritätischen. Nur die verantwortliche Ministerin, Andrea Nahles, zeigt sich davon wenig beeindruckt und ist offensichtlich wild entschlossen, das Gesetzvorhaben gegen alle Widerstände und vor allem gegen den erklärten Willen der Betroffenen durchzuziehen.

So ist abzusehen, dass es ein heißer Sommer und Herbst werden wird. Wer sich informieren oder einmischen möchte, findet unter www.kobinet-nachrichten.org und unter teilhabegesetz.org immer aktuelle Informationen zu dem Thema.


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Neue Bücher

Petra Meibert: Achtsamkeitsbasierte Therapie und Stressreduktion MBCT / MBSR. Ernst Reinhardt Verlag München 2016, ISBN: 978-3-497-02590-9, 145 S. 24,90 Euro

Lassen Sie sich von dem etwas sperrigen Titel mit ungewohnten Abkürzungen bitte nicht abschrecken! Die beiden am besten wissenschaftlich untersuchten achtsamkeitsbasierten Verfahren – MBSR (Mindfulness-Based-Stress-Reduction) und MBCT (Mindfulness-Based-Cognitive-Therapy) – werden in diesem Buch leicht verständlich vorgestellt (vgl. dazu auch die Leseprobe in dieser Ausgabe). Aktuelle Forschungsergebnisse legen nahe, dass achtsamkeitsbasierte kognitive Therapien (MBSR, MBCT) zur Rückfallprophylaxe bei Depressionen ebenso wirksam sind wie die Einnahme von Antidepressiva! Achtsamkeitspraxis kann deshalb sowohl im Umgang mit psychischen und physischen chronischen Erkrankungen sowie schwierigen Lebenssituationen als auch für die Stressprävention sehr hilfreich sein. Denn Achtsamkeit kann Menschen dabei helfen, negativen Gedanken und Gefühlen die Macht über sie zu nehmen und eine mitfühlende, freundliche Haltung sich selbst gegenüber zu entwickeln.

Die Autorin Petra Meibert ist Diplom - Psychologin und deutschlandweit aktiv in Ausbildung und Verbreitung von MBCT. Sie hat an verschiedenen Forschungsprojekten zur MBCT mitgearbeitet und ist - spezialisiert in Methoden der humanistischen Psychotherapie - seit 2005 als Ausbilderin für MBSR sowie MBCT tätig (http://www.achtsamkeitsinstitut-ruhr.de).

ERV/HGH


Wilhelm Rimpau: Der Arzt Albrecht Daniel Thaer (1752-1828). Der Mann gehört der Medizin wie der Landwirtschaft. Herausgegeben im Auftrag der Fördergesellschaft Albrecht Daniel Thaer e.V. Möglin 2016, ISBN: 978-3-9812614-5-5; 183 S. 15,50 Euro

Im Jahr 1774, 15 Jahre vor der französischen Revolution, beschreibt der britische Gelehrte Joseph Priestley erstmals den Sauerstoff, den er jedoch nicht als chemisches Element erkennt, Johann Wolfgang von Goethe schreibt "Die Leiden des jungen Werther" und - die Dissertation von Albrecht Daniel Thaer "Über die Tätigkeit des Nervensystems beim Fiebern" wird mit "summa cum laude" angenommen. Thaer? Nie gehört! Wer mag das sein? Ein Mann, dessen Bronzestatue immerhin auf dem Schinkelplatz in Berlin-Mitte steht! Das vorliegende Büchlein gibt sowohl den deutschen Text seiner, ursprünglich in Latein verfassten Doktorarbeit wieder als auch - kenntnisreich von Wilhelm Rimpau beschrieben - exakte Auskunft über den Mann, der als erster Sozialmediziner und Psychosomatiker gelten kann. Eine Art Universalgelehrter, der auch als Reformator der Landwirtschaft gilt, denn hinter Krankheit oder Missernten vermutete er nicht Fügung oder Zauberei, sondern wissenschaftlich zu beschreibende Ursachen. "Bereits in seiner Dissertation schildert Thaer die klinischen Beobachtungen an Kranken...Thaer beobachtete bei seinen Kranken, wie Furcht, Sorge, Zorn, Freude, Liebe, Neid, Stolz, etc. einen charakteristischen körperlichen Ausdruck finden und erfasste Krankheitssymptome auch als Folge unterdrückter Leidenschaften und damit die ´Wirkung der Seele auf den Körper und umgekehrt`", so beschreibt Rimpau den Psychosomatiker Thaer. Spannend! (Weitere Infos unter www.albrecht-daniel-thaer.org)

HGH


Theresia Degener / Elke Diehl (Hg.): Handbuch Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2015, 504 S.

Wie kaum eine andere Menschenrechtsquelle hat die UN-Behindertenrechtskonvention den öffentlichen Diskurs über die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft geprägt und ihm neue Impulse verliehen. Gleichwohl sind in dieser neuen Ära der Behindertenpolitik noch viele Fragen offen: Worin besteht das andere Verständnis von Behinderung? Was sind die wesentlichen Inhalte der Konvention? Was bedeutet der in diesem Zusammenhang oft genannte Begriff "Inklusion"?

Bei diesen und zahlreichen anderen Fragen soll das Handbuch Wegweiser sein, zur Aufklärung beitragen und die weitere Diskussion bereichern. Neben der Vermittlung von Grundlagenwissen werden die Instanzen der innerstaatlichen Durchsetzung der Konvention vorgestellt und zentrale Themenfelder beleuchtet, wobei sich Fach- und Praxisbeiträge gegenseitig ergänzen. Damit möchte das Handbuch einen Beitrag dazu leisten, Vorurteile abzubauen, Vielfalt zu ermöglichen und die Inhalte der Konvention in der Mitte der Gesellschaft ankommen zu lassen. Die dem Band beigefügte DVD enthält neben der barrierefreien Version des Handbuchs als PDF (4 MB) die Zusammenfassungen aller Beiträge in Leichter Sprache und Gebärdensprache.

bpb

Infos zum Buch auch unter: http://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/202216/handbuch-behindertenrechtskonvention


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