FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 24. Jahrgang, 2. Halbjahr 2014

Was kann verbessert werden? - Hinweise aus der Versorgungsforschung

von Gerd Glaeske

Multiple Sklerose (MS) ist eine entzündliche Krankheit des zentralen Nervensystems mit vielfältigen Symptomen, hohen Krankheitskosten und erkennbarem Optimierungsbedarf bei der Versorgung der Erkrankten. Einen wichtiger Kostenfaktor stellen die Immunmodulatoren dar - Arzneimittel, die zur Verhinderung von Schüben und zum Aufhalten der Krankheitsprogression eingesetzt werden. Für gängige Mittel liegen die Jahrestherapiekosten bei 20.000 Euro und mehr. MS ist ein lukrativer Markt für die Pharmaindustrie, der Umsatz der vier am meisten eingesetzten Wirkstoffe Interferon beta-1 a und beta-1 b sowie Glatirameracetat und Fingolimod liegt 2013 in Deutschland bei 1,3 Mrd. Euro. Neue Wirkstoffe sind mit noch höheren Kosten verbunden als etwa die Beta-Interferone, die Kosten für Alemtuzumab liegen für das erste Behandlungsjahr bei lediglich fünf Behandlungstagen beispielsweise bei ca. 47.000 Euro. Wahrscheinlich waren es wirtschaftliche Anreize, die Sanofi Aventis/Genzyme dazu bewogen haben, den Wirkstoff Alemtuzumab als günstigeres Leukämie-Arzneimittel MabCampath® vom Markt zu nehmen, um es später dann als teureres MS-Medikament Lemtrada® wieder auf den Markt zu bringen. Den hohen Kosten solcher Präparate steht ein oftmals unsicherer Nutzen für die Patientinnen und Patienten gegenüber. Auch wenn die neuen Wirkstoffe zum Teil stärker schubreduzierend als die am häufigsten eingesetzten Beta-Interferon-Spritzen wirken, mangelt es generell an Daten zum Langzeitnutzen der Immunmodulatoren. Die therapeutischen Effekte über eine Behandlungszeit von zwei Jahren hinaus sind weitestgehend ungeklärt. Auch das Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist breit gefächert, die neuen Mittel bedeuten zum Teil zusätzliche neue schwere Nebenwirkungen.

Eine Analyse der Immunmodulator-Verordnungen nach Altersgruppen hat gezeigt, dass im höheren Lebensalter ein größerer Teil der Patienten das ”Alt-Arzneimittel" Azathioprin - früher einzige Therapieoption neben den Glucocorticoiden - verschrieben bekommt. Auch wenn es derzeit an Vergleichsdaten mangelt, könnte Azathioprin mit Jahrestherapiekosten von unter 1.000 Euro in einigen Fällen möglicherweise eine wirtschaftliche Alternative zu einer Therapie mit Beta-Interferonen und anderen kostenintensiven Medikamenten darstellen.

Das große Vermarktungsinteresse pharmazeutischer Firmen im Indikationsgebiet MS könnte wie im Bereich der Onkologie daran liegen, dass bei diesen beiden Indikationsbereichen Kostenaspekte schon deshalb weniger im Vordergrund stehen, weil es sich um schwerwiegende Krankheiten handelt, bei denen jede Chance für die und von den Patientinnen und Patienten wahrgenommen wird, die Krankheitsbelastung zu verringern und die Lebensqualität zu verbessern. Daher kann es nicht erstaunen, dass die Anzahl neuer Arzneimittel im Bereich der MS wie auch in der Onkologie in den letzten Jahren erkennbar zugenommen hat - allerdings steigen die Kosten für die Mittel deutlich schneller an als die Anzahl der Nutzennachweise.

Vor dem Hintergrund der begrenzten Evidenz zu patientenrelevanten Outcomes und der schweren Nebenwirkungen der Arzneimittel sind bei MS gemeinsam getroffene Therapieentscheidungen zwischen Arzt und Patient im besonderen Maße wichtig (Shared decision making). Für die Zukunft sind mehr aussagekräftige Langzeit- und Vergleichsdaten wünschenswert, die sich auch verstärkt an den vielfältigen mit MS einhergehenden Einschränkungen orientieren und die Fragen zur Arzneimitteltherapiesicherheit besser klären. Im Rahmen der Versorgungsforschung sollten verstärkt Krankheitsverläufe untersucht werden, entsprechende Erkenntnisse könnten helfen, eine effiziente Therapie zu gewährleisten und Versorgungs- und Behandlungsstrukturen zu optimieren.

Kontakt: Prof. Dr. Gerd Glaeske, Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik, UNICOM, MarySomerville-Str. 5, 28359 Bremen, gglaeske@uni-bremen.de





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