Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 1/09 |
Ende März 2009 ist in Deutschland das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, kurz Behindertenrechtskonvention, in Kraft getreten. Mit der Behindertenrechtskonvention sind keine neuen Spezialrechte für behinderte Menschen geschaffenworden, sondern dieMenschenrechte, die für alle Frauen und Männer gelten, sind auf die Lebenssituationen von Menschen mit Behinderungenzugeschnittenundausdrücklichbenanntworden.DieVorschriften der Konvention sind ab sofort geltendes Recht in Deutschland. Im Folgenden werden zentrale Elemente der Konvention vorgestellt. Außerdem wird die Bedeutung der Behindertenrechtskonvention für Menschen mit MS thematisiert.
Perspektivenwechsel auf verschiedenen Ebenen
Mit der Behindertenrechtskonvention
ist ein Perspektivenwechsel
in der Betrachtungsweise von behinderten
Menschen in gesetzliche
Normierungen eingeflossen. Es
handelt sich um einen Perspektivenwechsel
auf verschiedenen
Ebenen:
• Weg vom medizinischen Modell
von Behinderung, über das soziale
Modell von Behinderung hin zu
einem menschenrechtlichen Modell
von Behinderung: Nach dem
medizinischen Modell von Behinderung
wird Behinderung als das
individuelle Defizit/Problem der
betroffenen Person gesehen. Eine
Behinderung liegt nach dieser Betrachtungsweise
in der jeweiligen
körperlichen, geistigen oder seelischen
Schädigung eines Menschen
begründet. Nach dem sozialen
Modell von Behinderung
sind es hingegen die gesellschaftlichen
Barrieren, die zur Behinderung
führen: die Stufen, die mobilitätsbehinderten
Menschen den
Weg versperren; schriftliche Informationen,
die für blindeMenschen
nicht wahrnehmbar sind; schwere
Sprache, die für Menschen mit sogenannten
geistigen Einschränkungen
unverständlich bleibt. AlsWeiterentwicklung
des sozialen Modells
von Behinderung begreift das
menschenrechtliche Modell behinderte
Menschen nicht länger als
Problemfälle, sondern als Trägerinnen
und Träger von unveräußerlichen
Menschenrechten. Sie werden
von Objekten zu Subjekten,
von PatientInnen zu BürgerInnen.
In der Behindertenrechtskonvention wird Behinderung in Artikel 1 als Wechselwirkung zwischen der Beeinträchtigung eines Menschen und verschiedenen Barrieren beschrieben. In der Präambel (Buchstabe m) der Konvention wird von dem „wertvollen Beitrag“ gesprochen, den Menschen mit Behinderungen zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaften leisten. Das ist neu, so wurde von Behinderung und behinderten Menschen bislang nicht gedacht.
• Von der Integration zur Inklusion:
Nach demModell der Integration
müssen sich Menschen, die anders
sind als die Norm, an die bestehenden
Verhältnisse anpassen.
Das trifft auf Menschen mit Behinderungen
genauso zu wie beispielsweise
auf Menschen mit Migrationshintergrund.
Nach dem
Konzept der Inklusion müssen sich
dagegen die gesellschaftlichen
Verhältnisse so verändern, dass sie
den Bedürfnissen der verschiedenen
Menschen gerecht werden.
Zum Beispiel müssen nicht die Kindermit
Behinderungen fit für die Regelschule
gemacht werden, sondern
die Regelschule muss sich so
verändern, dass sie auch Kinder
mit verschiedenen Behinderungen
optimal fördern kann.
Das Konzept der Inklusion ist ein wesentliches Charakteristikum der Behindertenrechtskonvention. Leider wurde der englische Begriff „inclusion“ in der offiziellen deutschen Übersetzung teilweise fälschlich mit „Integration“ übertragen. Eine Übersetzung, die sich stärker an der authentischen Originalfassung der Konvention orientiert als die offizielle deutsche Version, hat das NETZWERK ARTIKEL 3 e.V. mit der sogenannten „Schattenübersetzung“ erstellt. Sie ist unter www.nw3.de herunterzuladen oder beim Netzwerk zu bestellen.
• Von der Wohlfahrt und Fürsorge
zur Selbstbestimmung:
Traditionell werden behinderte Menschen
gepflegt, versorgt, betreut und dabei
vielfach entmündigt. Nach
dem menschenrechtlichen Verständnis
von Menschen mit Behinderungen
haben behinderte Frauen
und Männer genauso das
Recht, ein selbstbestimmtes Leben
in Würde zu führen, wie alle anderen
Menschen auch. Das bedeutet
beispielsweise, dass sie entscheiden
können, wo und mit wem
sie leben wollen, und nicht gezwungen
werden dürfen, in besonderen
Wohnformen zu leben
(Artikel 19 der Behindertenrechtskonvention).
Die notwendige Hilfe
muss dann der gewählten Wohnform
folgen und nicht umgekehrt.
Auch die Selbstbestimmung ist ein Schlüsselbegriff der Behindertenrechtskonvention. Leider wurde auch dieser Begriff falsch ins Deutsche übertragen. Selbstbestimmung bedeutet in jedem Fall, die Wahlmöglichkeit zwischen akzeptablen Alternativen zu haben, was in der Lebensrealität vieler behinderter Menschen in Deutschland derzeit noch nicht gegeben ist.
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