Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 2/08 |
„Man sollte viel mehr Behinderte für den Katastrophenschutz engagieren. Jemand im Rollstuhl hat ein ganz gutes Gespür für das Alltägliche des Dramas. Das meine ich ernst.“ So ein Auszug aus dem Tagebuch von Dorner, das den Zeitraum von vier Monaten füllt. Ich schmunzele in mich hinein auf meiner mehrstündigen Zugreise. Selten habe ich mit so viel Genuss ein Tagebuch gelesen, in dem ein/e Autor/in über die eigene Behinderung, in diesem Falle über MS schreibt. Was für ein Glück, denke ich, dass auch Schriftsteller wie Maximilian Dorner mit MS leben (sorry!) und mit ihrem geschliffenenWerkzeug Sprache detailgenau, unbarmherzig, amüsant und treffsicher ihre Wirklichkeit beschreiben. Faszinierend finde ich auch Dorners Offenheit, etwa wenn er über die Schwierigkeiten schreibt, ein Urinal anzulegen.
„Mir ist beim Schreiben dieses Tagebuches eines klar geworden. Es geht darum, nicht mit, sondern in den Widersprüchen meiner Existenz zu leben.“ Das schreibt Dorner am 30. Dezember, zum Ende seiner Aufzeichnungen und trifft damit, wie ich finde, den Nagel auf den Kopf. Nach dem Cartoonisten Hubbe mit MS, der Behinderung zeichnet, jetzt also der Literat Dorner mit MS, der Behinderung beschreibt. Jetzt hätte ich gerne noch die Komponistin mit MS, die MS-Songs schreibt. Und warum gibt es immer noch kein MS-Musical? Nur Mut!
HGHDass strukturelle Veränderungen im Gehirn, zum Beispiel durch Verletzungen oder Degenerationen, unser Verhalten beeinflussen, wissen wir seit langem. Aber:Wie verändern umgekehrt Lebenserfahrungen, insbesondere Kindheitstraumen, aber auch chronische Schmerzen, Ängste oder Depressionen unsere Hirnstruktur? Auf welche Weise bewirken Verhaltensänderungen oder psychotherapeutisches Handeln – „sprechende Medizin“ – eine neuronale Umstrukturierung? Und: Wie können Gehirn und Psyche wiederum die Gesundheit unseres übrigen Körpers beeinflusssen, etwa Entzündungen und die körpereigene Abwehr von Infektionen oder die Funktionen von Herz oder Kreislauf?
Diesen und ähnlichen Fragen zu den komplexen Wechselwirkungen von Psyche und Soma und zur zunehmend erforschten Neuroplastizität des Gehirns widmet sich der Heidelberger Physiologe Johann Caspar Rüegg in seinem vorliegenden Buch, das er – überarbeitet und aktualisiert – nun in der vierten Auflage vorlegt. Hirnforschung und psychotherapeutische Medizin bewegen sich immer mehr aufeinander zu und Rüeggs Werk über eine neurobiologisch fundierte Psychosomatik ist ein eindrucksvoller Beleg für diesen interdisziplinären Prozess.
Wenn sechs HerausgeberInnen insgesamt 54 AutorInnen zu Wort kommen lassen, ist eine differenzierte Rezension eines Buches eigentlich unmöglich. Das Werk hat zudem den Anspruch, „einen umfassenden Überblick über die multidisziplinären und multimethodalen Behandlungsansätze“ der Rehabilitation in der Psychosomatik zu geben. Dabei werden auch sehr unterschiedliche Psychotherapieschulen, etwa die psychodynamische, die Verhaltenstherapie, die Humanistische Psychotherapie und die Gesprächtspsychotherapie gleichberechtigt nebeneinander dargestellt. Neben AutorInnen aus den Bereichen von Psychologie und Medizin finden sich jedoch auch Beiträge aus dem Bereich der Deutschen Rentenversicherung, des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, der Sozialarbeit, der Diätetik oder der Pflegewirtschaft. Basis des voluminösen Titels und aller seiner Beiträge ist ein anderes Krankheitsverständnis nach der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), das ein rein lineares Modell der Krankheitsfolgen ablehnt und sich eher ressourcenorientiert versteht. Begleitet wird dies von dem Bemühen, Selbsthilfepotenziale bei den Betroffenen zu aktivieren, Hilfe zur Selbsthilfe in der Rehabilitation zu verankern und zu einem „Paradigmenwechsel von einer paternalistischen zu einer patientenorientierten Medizin“ zu gelangen. Wenn der Verlag den Titel als „ergiebigen Leitfaden“ bezeichnet, so meine ich, dass dies eine durchaus zutreffende Bezeichnung ist – man hätte auch „unerschöpflicher Gedankensteinbruch“ sagen können.
Wer FORUM PSYCHOSOMATIK in den letzten Jahren ausführlich gelesen hat, für den wird der Namen Viktor von Weizsäcker nicht neu sein. Weizsäcker, der von 1886 bis 1957 lebte, und dessen Neffe Richard deutscher Bundespräsident war, darf getrost als „Klassiker der Medizin“ oder als „Begründer der anthropologischen Medizin“ bezeichnet werden. Für die Suhrkamp-Reihe „medizinHuman“ hat der Berliner Neurologe Wilhelm Rimpau (der auch Mitarbeiter an der Edition der Gesammelten Schriften Weizsäckers und Jurymitglied der Stiftung LEBENSNERV ist) jetzt ein Lesebuch mit wichtigen Texten und Vorträgen des Arzt und Forschers Viktor von Weizsäcker herausgegeben. Darin lässt sich detailliert nachlesen, warum Menschen ihre Krankheiten nicht einfach bekommen, sondern dass sie immer in die jeweils individuelle Lebensgeschichte „eingewoben“ sind, dass jede Krankheit seelische Dimensionen hat. „Weizsäcker hat“ so Rimpau in seiner Einleitung zum 1956 entstanden Text „Pathosophie“, (der übrigens frappierende inhaltliche Nähe zum 1979 skizzierten Krankheitsverständnis von Aaron Antonovsky aufweist) „grundsätzliche Zweifel an der Objektivität medizinischer Erkenntnisse, solange nicht Leib und Seele, psychische und physische Symptome im Sinne einer umfassenden Krankheitslehre aufeinander bezogen werden, solange nicht das Subjekt wieder in medizinische Fragestellungen eingeführt und die Biographik und Individualität des Patienten als Teil des ärztlich-forschenden Prozesses verstanden werden.“ Auf Grund des etwas antiquiert wirkenden Stils der Weizsäckerschen Vorträge ist die Textsammlung nicht immer leicht zu lesen, aber – da die Ansichten nicht antiquiert, sondern höchst aktuell sind – überaus lohnenswert für alle, die mit der heutigen Medizin unzufrieden sind.
HGHHoppla, denke ich, will der Autor da nicht ein bisschen hoch hinaus, wenn er einleitend schreibt: „‚Was heilt’ ist der Versuch, eine neue Dimension für eine heilende Medizin des 21. Jahrhunderts zu entwerfen, eine Dimension, die den Menschen in all seinen Aspekten würdigt und alle uns bekannten Möglichkeiten eines Heilungsprozesses ausschöpft.“ – Kennt Platsch denn nicht die Ansätze von Autoren wie Uexküll,Weizsäcker, kennt er nicht die Konzepte einer ganzheitlichen, integrierenden Medizin? Doch, kennt er, auch wenn er in seinem Buch für meine Begriffe ein etwas verengtes Verständnis von Psychosomatik präsentiert. Was der Autor als neuen Ansatz für das 21. Jahrhundert vorschlägt, ist nichts anderes als die Einführung der Erkenntnis der Quantenphysik in die Medizin: Die Abkehr von der Vorstellung, dass es eine feste Materie gebe zugunsten der Vorstellung eines Feldes, in dem sich viele Teilchen befinden, die untereinander in Wechselbeziehung stehen. Es gibt nach Platsch deshalb auch heilende Felder, etwa in der „vertrauensvollen Begegnung zwischen Arzt und Patient“. Der Begriff „Heil“ steht in diesem Zusammenhang für ein inneres Gleichgewicht und nicht für die völlige Abwesenheit von Beschwerden oder Symptomen. Und was wirklich „heilt“, so Platsch, ist Liebe, die er als „stärkster Positivfaktor“ und „höchste heilende Dynamik“ versteht. Der Ansatz von Platsch mag manchen LeserInnen etwas zu weit hergeholt zu sein, aber ich finde, es lohnt sich, sich einmal darauf einzulassen und selbst zu prüfen, ob er für einen selbst passt. Ich jedenfalls habe mich entschlossen, mich einmal intensiver mit den Begriffen der modernen Quantenphysik zu befassen.
HGH
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