Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 2/07 |
Prof. Dr. Gerd Glaeske und Dr. Kirsten Schubert vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen stellten am 29. November 2006 in der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) in Hannover einen Bericht zum Einfluss der Pharmaindustrie auf die Selbsthilfe vor. Die Studie wurde im Auftrag der Selbsthilfe-Fördergemeinschaft der Ersatzkassen erstellt.
„Die Arzneimittelkonzerne haben erkannt, dass die Selbsthilfegruppen über einen großen Einfluss verfügen. Dort empfohlene Medikamente werden auch verordnet und gekauft“, erklärt Schubert. Das nutzen die Konzerne für ihr Marketing aus. „Die Informationen, die die Patienten über Selbsthilfegruppen bekommen, sind längst nicht mehr frei von Wirtschaftsinteressen“, so Schubert weiter. Eklatant sei, dass sich viele Selbsthilfegruppen dieser Einflussnahme nicht bewusst sind. Dies sei verhängnisvoll, da die Selbsthilfe heute auch Mitspracherechte in professionellen Gremien des Gesundheitswesens habe.
Professor Glaeske betonte: „Wichtig ist daher, dass auf allen Seiten Transparenz über die Herkunft der Informationen herrscht. Nur wenn erkennbar ist, wer hinter einer Botschaft steckt, können die Patienten gezielt nach anbieterunabhängigen Informationen Ausschau halten. Einzig dadurch können sie sich wirklich eine eigene Meinung bilden und effektiv an der Verbesserung ihrer Erkrankung mitwirken.“<(p>
Die Einflussmöglichkeiten der Pharmaindustrie liegen in der chronischen Finanznot der Selbsthilfe begründet. „Die Arbeit der Selbsthilfegruppen und -organisationen wird immer professioneller – das erfordert mehr Personal und kostet dadurch auch zunehmend mehr Geld“, sagte Karin Niederbühl vom Verband der Angestellten-Krankenkassen (VdAK) und Arbeiter-Ersatzkassen-Verband e.V. (AEV), die federführend die Erstellung des Berichts betreut hat. Neben der Förderung durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und die öffentliche Hand haben sich viele Selbsthilfegruppen deshalb seit Jahren zunehmend Unterstützer aus der Wirtschaft erschlossen. Bei einem Viertel der Selbsthilfegruppen liegt die Finanzierung über Sponsoring bei knapp 20 Prozent*. Fünf Prozent der Gruppen und Organisationen erhalten die Hälfte ihres Budgets aus Sponsoringmitteln*. Rund 30 Prozent des Umsatzes eines Medikamentes werden von den Pharmafirmen in das Marketing gesteckt. „Das ist etwa doppelt so viel, wie in die Forschung fließt“, erklärte Ingo Kailuweit, Vorstandsvorsitzender der KKH.
Der Bericht belegt, dass es innerhalb der Selbsthilfegruppen ein Hierarchiegefälle im Hinblick auf das Wissen um die Einflussnahme gibt. „Je höher die Funktion innerhalb der Selbsthilfe, desto eher ist die Tatsache bekannt, dass die Industrie über die Patienten direkt Einfluss auf die Verordnungen nimmt“, stellt Schubert fest. Viele Mitglieder von Selbsthilfegruppen sind sich der Beeinflussung zu wenig bewusst.
Um die derzeitigen Strukturen zu überwinden, müsste zuallererst ein unabhängiges Kontroll- und Beratungsinstrumentarium installiert werden. „Dies könnte beispielsweise in Form einer Monitoringstelle beziehungsweise Task-Force geschehen“, schlug Glaeske vor. Die ausreichende Förderung durch alle Sozialversicherungsträger und die öffentliche Verwaltung wäre laut Glaeske grundsätzliche Voraussetzung, um die finanzielle Unabhängigkeit der Selbsthilfe zu stärken. Neben der Basisfinanzierung durch Staat und Sozialversicherung muss es laut Glaeske verbindliche Regeln für ein „Good Sponsoring Practice (GSP)“ geben.
„Wir sind froh, dass wir im Zeitalter des ‚aufgeklärten Patienten’ leben. Dieser Fortschritt darf nicht durch den Einfluss vonWirtschaftsinteressen gefährdet werden“, betonte Karin Niederbühl. Und Kailuweit ergänzte: „Selbsthilfegruppen sind in unserem Gesundheitssystem ein wesentlicher Bestandteil. Deshalb ist es gut und richtig, dass der Gesetzgeber mit der Gesundheitsreform auch die Förderung der Selbsthilfe deutlich stärkt.“
* Quelle: Schilling, R. (2006): Die Entwicklung der Arbeits- und Fördersituation von Bundesvereinigungen der Selbsthilfe in Deutschland – ein zeitlicher Vergleich von Erhebungen der NAKOS zu den Jahren 1997, 2001, 2002 und 2004. In: Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (Hrsg.) Selbsthilfegruppenjahrbuch 2006.
Bitte beachten Sie dazu auch unsere Rubrik „Bücherkiste“ und die Besprechung des Titels „BIG PHARMA“. - In der Zeitschrift Bioskop Nr. 38 (Juni 2007) erschien zum gleichen Thema der Artikel „Undurchschaubar vernetzt. Selbsthilfe und Pharmafirmen – ein Erfahrungsbericht zu Kooperationen zwischen ungleichen Partnern“. In diesem Artikel (Bezug: bioskop e.V., Bochumer Landstr. 144a, 45276 Essen) berichtet Rolf Blaga von den Erfahrungen der Psoriasis Selbsthilfe Arbeitsgemeinschaft mit der Pharmaindustrie (d. Red.).
voriger Artikel **
nächster Artikel
FP-Gesamtübersicht
Startseite