Wolfgang Weihe: Was Sie schon immer Über Multiple Sklerose wissen wollten.
310 Fragen und Antworten zur MS. Carus Verlag,
Bad Zwesten 2003, 404 S., 19,80 Euro
Der Buchtitel, der an Woody Allens Film "Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, ...", anknüpft, lässt die Enthüllung von Tabus oder zumindest mehr oder weniger spektakuläre Neuigkeiten erwarten. Tatsächlich trägt der Autor bekannte medizinische Fakten zum Thema MS zusammen und hat sie lediglich in die neue stilistische Frage-Antwort-Form gekleidet.
Der Arzt Dr. Wolfgang Weihe geht auf vielerlei Fragen ein, die ihm im Laufe der Jahre von Betroffenen gestellt worden sind. Meist folgt der zusammengefassten Frage im Titel eines Absatzes die ausführliche Frage des oder der Betroffenen. Manchmal fehlt die ausführliche Frage, und ich nehme an, dass es an solchen Stellen keine passende Frage einer/s Betroffenen zu einem Thema gab, zu dem der Autor sich gerne äußern würde und geäußert hat. Die Frage-Antwort-Form macht es leichter und kurzweiliger, den umfangreichen, nicht immer einfachen Stoff zu lesen.
Das ist der positive Aspekt, der mir zum Stil des Buches aufgefallen ist. Gestört hat mich das Piktogramm des erhobenen Zeigefingers, das Fragen kennzeichnet, die nach Weihes Ansicht wichtig für Neubetroffene sind, sowie die rein männliche Sprache. Ebenso unpassend finde ich, dass der Autor selten von "MS-Betroffenen", sondern fast immer von "Patienten" oder "Kranken" spricht.
Inhaltlich beschäftigt sich Weihe in seinem Buch mit verschiedenen Aspekten der Erkrankung und hat den Stoff in sechs Kapitel gegliedert: "Klinik der MS (Symptome/Diagnose/Verlauf)", "Die Ursache der MS", "MS und Psyche", "Medikamentöse Behandlung der MS", "Alternative und komplementäre Therapieverfahren", "Wichtiges, das nicht in die Üblichen Schubladen passt". Im Anhang finden sich Literaturempfehlungen, Erklärungen von Fachwörtern und ein Personenund Stichwortverzeichnis.
Dabei gibt Weihe die schulmedizinischen Fakten wieder, wobei er sich bemüht, sie in einer verständlichen Sprache darzustellen, was ihm meiner Ansicht nach recht gut gelungen ist. Wenn der Autor aber über Fragen wie "Schuld", "Stress" oder "Psychosomatik" schreibt, bleiben seine Antworten für meinen Geschmack viel zu vage und oberflächlich. So wird beim Thema "Schuld" nicht die Differenzierung in "Schuld" und "Verantwortung" angesprochen. Beim Thema "Stress" fehlt beispielsweise jeder Hinweis darauf, dass es unterschiedliche Formen von Stress gibt. Die Definition von "Psychosomatik" bei der "Erklärung der Fachwörter" im Anhang lautet "Auffassung, dass körperliche Krankheiten auch durch seelische Faktoren beeinflusst werden können" - meiner Meinung nach eine recht unscharfe und ungenaue Definition dieses Begriffes. Schon im "Pschyrembel Klinisches Wörterbuch" ist zutreffender von der "Wechselwirkung von Körper und Seele" die Rede. Noch differenzierter drückt sich das "Deutsche Kollegium für psychosomatische Medizin" aus: Danach geht es um die "Wechselwirkungen seelischer, körperlicher und sozialer Faktoren bei der Entstehung und im Verlauf von Krankheiten".
Völlig fassungslos war ich dann, als der Autor im Abschnitt 34.3 die Frage "Leben Behinderte in einer eigenen Welt?" zu beantworten versucht. "Die Gefahr besteht, in eine Welt der Behinderten zu emigrieren,..." schreibt Weihe und sieht ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen ÄrztInnen und Betroffenen in Gefahr. Ich bekomme dabei eine Gänsehaut und frage mich, welches Bild von behinderten Menschen im Kopf des Autors existiert. Anscheinend ist die Diskussion der vergangenen Jahre mit dem von der Bundesregierung vollzogenen Perspektivenwechsel in der Behindertenpolitik spurlos an Weihe vorbeigegangen. Entsprechend enthält das Buch keine Antworten auf Fragen nach einem Leben mit Behinderung und unter Umständen mit zunehmendem Hilfe- und Assistenzbedarf. Ebenso fehlt der gesamte Komplex der psychosozialen Faktoren und Probleme.
Insgesamt kann das Buch hilfreich sein, wenn jemand verständliche medizinische Informationen Über MS sucht. Bei allen Fragen, die über die rein körperlichen Aspekte hinausgehen, sind Weihes Ausführungen nach meiner Einschätzung allerdings mit Vorsicht zu genießen. Und den Tabubruch, den der Titel anklingen lässt, habe ich vergeblich gesucht.