Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/04

Was versteht die Stiftung unter Ganzheitlichkeit?


von Sigrid Arnade


Im nachstehenden Artikel beschäftigt sich die Autorin zunächst mit dem Begriff der Ganzheitlichkeit und seiner Definition. Anschließend wird es um die Bedeutung einer ganzheitlichen Betrachtungsweise für die Krankheit Multiple Sklerose (MS) und für die MS-Betroffenen gehen. Schließlich wird die Verbindung von Ganzheitlichkeit zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung aufgezeigt und die Bedeutung am ÄrztInnen-Betroffenen-Verhältnis veranschaulicht.



Problematischer Begriff

Ganzheitlichkeit ist ein Begriff, der in der heutigen Zeit geradezu inflationär gebraucht wird. Er ist bei den meisten Menschen positiv besetzt und lässt bei mir zumindest ein unspezifisches angenehmes "Rundum-Gefühl" entstehen. Gleichzeitig ist es ein Begriff, der in medizinischen Fachkreisen teilweise zurückhaltend gebraucht oder gar abgelehnt wird.

Die Ablehnung liegt zum Teil in der menschenfeindlichen Verwendung des Begriffs der Ganzheitlichkeit zur Zeit des Naziterrors begründet. Eine ganzheitliche Betrachtungsweise in Gesundheitsfragen wurde seinerzeit entsprechend der Nazi-Ideologie interpretiert: Mit der "Ganzheitlichkeit" wurde der Vorrang des höheren "Volksganzen" vor den Interessen des Individuums begründet. Im Zweifelsfalle musste also das Individuum den Interessen des „Volksganzen“ geopfert werden.

Nach unserer Erfahrung versteht heute kaum noch jemand den Begriff der Ganzheitlichkeit in der eben skizzierten Weise. Kaum jemand weiß Überhaupt von dieser zeitweiligen Pervertierung des Begriffes. Deshalb haben wir als Stiftung uns entschieden, den Begriff der Ganzheitlichkeit zu verwenden und gleichzeitig deutlich zu machen, was wir damit meinen.

Ein weiterer Einwand gegen diesen Begriff ist der häufige Gebrauch ohne eindeutige Definition. Aus diesem Grund wollen wir einen eindeutigen Begriff von Ganzheitlichkeit verwenden und versuchen, diese Vokabel zu definieren.

Definition

Bei einer ganzheitlichen Betrachtungsweise eines Menschen sind alle Aspekte zu berücksichtigen. Das sind zunächst die körperlichen (somatischen) Faktoren genauso wie die seelischen (psychischen) Aspekte. Mit diesen beiden Bereichen haben wir nun auch schon den traditionellen Begriff der Psychosomatik umrissen. Eine ganzheitliche Betrachtungsweise umfasst jedoch noch mehr: Berücksichtigt wird auch die Umwelt des Individuums sowie seine Einbettung in psychosoziale Bezüge. Thure von Uexküll bezeichnet dieses Ganzheitlichkeitsverständnis als "bio-psycho-soziales Modell". Eine solche Betrachtungsweise vertritt auch die "Akademie für Integrierte Medizin" (AIM), mit der die Stiftung LEBENSNERV kooperiert. (vgl. auch gesonderten Artikel in dieser Ausgabe, d.Red.) In der Selbstdarstellung der AIM heißt es unter anderem "Integration meint Ganzheitlichkeit".

Wichtig ist, dass Ganzheitlichkeit immer ein individuelles Konzept ist, denn die unterschiedlichen Faktoren sind bei jedem Menschen verschieden ausgeprägt und spielen in unterschiedlichem Maße eine Rolle. Insofern kann es keine Pauschalurteile, kein Schubladendenken geben, sondern jeder Mensch ist in seiner Einmaligkeit individuell zu betrachten und zu begleiten.

Ganzheitlichkeit und MS

Was bedeutet nun eine ganzheitliche Betrachtungsweise für Multiple Sklerose (MS) und die MS-Betroffenen? Zunächst zur Krankheitsbedeutung: Unter einem ganzheitlichen Blickwinkel wird eine körperliche Erkrankung wie MS nicht nur mit dem Defizitblick als Störung im Zentralen Nervensystem (ZNS) betrachtet, sondern es wird auch nach der Bedeutung gefragt. Es wird beispielsweise nach der Bedeutung der Gesamterkrankung für das Individuum, nach der Bedeutung einzelner Symptome, eventuell auch nach dem Sinn gefragt.

Dazu ein Beispiel: Kürzlich erzählte mir ein MS-betroffener Mann am Telefon, er habe seinen Beruf als Ingenieur MS-bedingt aufgegeben und widme sich nun schwerpunktmäßig seinem Hobby, der Musik. Das habe zur Folge, dass er den Rollstuhl verlassen habe und nun wieder drei Kilometer laufen könne. Ich kenne diesen Mann, seine berufliche Situation und seinen Krankheitsverlauf nicht näher. Wenn wir ihm aber einfach mal glauben, was er erzählt hat, dann wäre doch folgende Deutung denkbar: Aus irgendwelchen Gründen (fachliche, menschliche oder sonstige) belastete ihn seine Berufstätigkeit als Ingenieur. Die MS, die er sich sicherlich nicht gewünscht hat, führte dazu, dass er die Berufstätigkeit aufgab und sich nun ganz der Musik widmen kann. Diese Lebensform bekommt ihm offensichtlich besser, denn seine körperlichen Symptome haben sich gebessert. Solch eine laienhafte "Ferndeutung" kann natürlich vollkommen falsch sein, es ist einfach eine mögliche Interpretation von vielen.

Wenn die Deutung aber wahre Anteile enthält, so spricht diese Geschichte für die Hypothese zur Psychosomatik der MS, die eine Forschungsgruppe der Stiftung LEBENSNERV Mitte der 90er Jahre aufstellte. In der 15-köpfigen Gruppe waren MS-Betroffene, NeurologInnen, PsychologInnen und PsychotherapeutInnen. Diese Personen formulierten jeweils ihre eigene heimliche Hypothese zur Psychosomatik der MS.

Erstaunlicherweise gab es bei dieser heterogen zusammengesetzten Gruppe eine große Gemeinsamkeit: Übereinstimmend wurde die MS als Lösungsversuch auf der körperlichen Ebene bezeichnet. Und dazu passt die Geschichte des Ingenieurs. Ansonsten differierten die Hypothesen in der Gruppe, wobei manche Aspekte sich ähnelten und vieles von mehreren TeilnehmerInnen genannt wurde. Insbesondere hinsichtlich der Frage, was wie durch die Krankheit gelöst werden solle, wurden verschiedene Hypothesen angeboten.

Die MS bzw. die MS-Symptome könnten einen Lösungsversuch darstellen
• zur neuen besseren Selbstorganisation als Ganzes (psychisch und körperlich); • zur besseren Selbstregulation;
• für etwas, das noch nicht gelebt wurde/Entwicklungshemmung;
• um vorher versteckte traumatische Erfahrungen deutlich zu machen;
• um wichtige (unangenehme) Erfahrungen zu verstecken (im Sinne einer zweiphasigen Abwehr);
• um ein selbstbestimmteres Leben führen zu können;
• um etwas zu bekommen oder um etwas zu vermeiden;
• um sich selbst besser wahrnehmen zu lernen;
• um ein Recht auf Autonomie zu bekommen;
• um eine Pflicht nicht erfüllen zu müssen.

Die Stiftung LEBENSNERV vertritt ebenfalls die Auffassung, dass die Krankheit MS ein Lösungsversuch ist. Sie versteht die Symptome als unbewusste Kompensationsversuche des Organismus, die entwickelt werden, um ein aus dem Gleichgewicht geratenes Ganzes wieder mehr ins Gleichgewicht zu bringen.

Ganzheitlichkeit und MS-Betroffene

Damit kommen wir zur Bedeutung einer ganzheitlichen Betrachtungsweise für die MS-Betroffenen. Wenn Krankheit der unbewusste Lösungsversuch eines Problems, einer unerträglichen Situation ist, wenn Symptome den Sinn haben, den Menschen als Ganzen wieder etwas mehr ins Gleichgewicht zu bringen, dann lohnt es sich, nach der Bedeutung der Krankheit und der Symptome für die/den einzelne/n Betroffene/n zu fragen.

Es ist meiner Meinung nach kein Zufall, dass wir ausgerechnet dieses oder jenes Symptom entwickeln. Um die Sprache der Symptome zu verstehen, finde ich zwei Fragen wichtig: Zum einen: Was will gerade dieses Symptom mir gerade jetzt sagen? Oft wird man keine Antwort finden. Aber manchmal ist es auffällig, welche Symptome zu welcher Zeit mit welchen Lebensumständen auftreten. Zumindest im nachhinein habe ich schon oft Erklärungen gefunden.

Die meiner Ansicht nach zweite wichtige Frage in diesem Zusammenhang lautet: Welche Vorteile habe ich eventuell durch dieses Symptom? Was ermöglicht es mir, was ich sonst nicht bekomme? Ich will damit nicht sagen, dass diese Erkrankung toll oder erstrebenswert ist, geschweige denn, dass irgend jemand sie bewusst herbeigeführt hat oder gar selbst schuld ist. An dieser Stelle noch eine Anmerkung zur Frage der Schuld: Ich bin davon Überzeugt, dass jeder Mensch in jeder Situation so gut agiert und reagiert wie er oder sie kann. Wenn dem Körper kein anderer Lösungsversuch als MS "einfällt", so ist das bedauerlich, hat aber nichts mit Schuld des Betroffenen zu tun. Statt sich selbst Vorwürfe zu machen, sollte man oder frau eher für die Zukunft nach Wegen suchen, schwierige Lebenssituationen zu bewältigen, ohne mit Krankheitssymptomen reagieren zu müssen.

Zurück zur Frage des Krankheitsgewinns: Ich denke, dass diese Frage helfen kann, das Symptom zu verstehen und eventuell Überflüssig zu machen. Ich bin allerdings der Ansicht, dass nicht alle Symptome verschwinden, wenn man sie versteht. Ich glaube vielmehr, dass es auch irreversible Schäden des ZNS gibt. Aber wer weiß? Wichtig ist aus meiner Sicht, ein ganzheitliches Verständnis für das Leben mit der Erkrankung an MS zu entwickeln und sich die Bedeutung für die eigene Identität klarzumachen.

Deshalb halte ich es für wichtig, bei sich selbst genau hinzuschauen: Was hilft, was hilft nicht, was brauche ich, wie bekomme ich es, was erhöht meine Lebensfreude und Lebenszufriedenheit? Natürlich kann niemand sich sein Leben so einrichten, dass es ihm oder ihr ständig super geht. Aber wenn man um die gefährlichen Momente weiß, kann man sich im Zweifelsfallm Unterstützung holen, beispielsweise durch erfahrene BeraterInnen oder TherapeutInnen.

Ganzheitlichkeit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung

Ich möchte zunächst betonen, dass mein Begriff von Eigenverantwortung nichts mit der Eigenverantwortung zu tun hat, die neuerdings im gesundheitspolitschen Zusammenhang beschworen wird und nichts anderes meint, als die allmähliche Aufkündigung der solidarischen Sozialversicherungen und die zunehmende finanzielle Belastung der Betroffenen.

Wenn MS-betroffene Menschen dahin kommen, selbstbestimmter zu leben und damit mehr Eigenverantwortung im Umgang mit ihrer Erkrankung an MS zu Übernehmen, kann das ein Ende der Hilflosigkeit und den Anfang eines sinnvoll gestalteten Lebens mit der Krankheit bedeuten. Das sollte allerdings ohne Allmachtsphantasien und ohne den Druck geschehen, alles im Griff haben zu müssen, denn sonst ist der nächste Frust vorprogrammiert. Ich persönlich bin davon Überzeugt, dass in jedem Menschen große Potenziale von Selbstheilungskräften schlummern, die es zu entdecken und zu aktivieren gilt!

Ganzheitlichkeit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung im ÄrztInnen-Betroffenen-Verhältnis

Ein wichtiges Thema für chronisch kranke Menschen ist immer wieder der Umgang mit ÄrztInnen. Und das Verhältnis zu ÄrztInnen kann auch als Gradmesser für die eigene Selbstbestimmung und das eigene Empowerment dienen.

Im der Beziehung zwischen ÄrztInnen und Betroffenen ist ein grundsätzlicher Perspektivenwechsel notwendig, der von den ÄrztInnen der Akademie für Integrierte Medizin und von einigen anderen ÄrztInnen bereits vollzogen wird: Die Betroffenen werden nicht mehr als Objekte der Ärztlichen Fürsorge gesehen, sondern als Subjekte, die mit den ÄrztInnen eine Beziehung mit dem Ziel einer ganzheitlichen Verbesserung des Lebens der Betroffenen gestalten.

Wir als Betroffene sollten uns nicht damit begnügen, entmündigendes Verhalten von ÄrztInnen anzuprangern. Auch wir tragen Verantwortung für das Verhältnis zu unseren ÄrztInnen, und diese Verantwortung sollten wir meiner Ansicht nach bewusst wahrnehmen. Dazu gehört zunächst, das eigene Ärztebild kritisch zu hinterfragen: Wünsche ich mir den "Gott in Weiß", der mir alle meine Sorgen um meinen Körper abnimmt und der weiß, wo es langgeht? Erwarte ich zumindest den fachkompetenten Profi, der auf alle Fragen eine Antwort weiß? Oder gehe ich mit der negativen Erwartungshaltung in die Sprechstunde, dass mir sowieso niemand helfen kann?

Das alles kann wohl nicht die Lösung sein. Mit solchen Erwartungshaltungen produzieren wir schon die Ungleichheit im Kontakt. Immer noch spielen Kategorien von oben/unten, wissend/unwissend, Macht und Ohnmacht eine viel zu große Rolle. Wenn ich zu einer Architektin gehe, damit sie mir ein Haus baut, so bekommt sie mein Geld, damit sie mit ihrem Fachwissen meine Wünsche erfüllt. Sie hat kein Recht, mich Über die statischen Gegebenheiten und den Baufortschritt im Unklaren zu lassen. Und sie muss sich so ausdrücken, dass ich sie verstehen kann. Damit der Bau gelingt, muss aber auch die Beziehung zwischen ihr und mir stimmen.

Letzteres spielt im Verhältnis zu ÄrztInnen eine noch viel entscheidendere Rolle, da es nicht nur um ein Haus, sondern um uns selbst geht. Aber die Grundbedingungen sind ähnlich: ÄrztInnen leben von unserem Geld, damit sie ihre Fachkenntnisse in unseren Dienst stellen. Sie haben uns ihre Erkenntnisse und Diagnosen mitzuteilen und zwar auf deutsch. Und schließlich müssen beide Seiten entscheiden, was sie voneinander wollen, ob sie ein Stück des Weges mit einer im klassischen Sinne unheilbaren Krankheit gemeinsam gehen wollen.

Wie so etwas aussehen könnte, beschreibt der MS-betroffene Arzt Alexander Burnfield in seinem Buch: "Eine Frau erzählte mir von der Reaktion ihres praktischen Arztes auf ein Schreiben des konsultierten Neurologen, das die Diagnose MS bestätigte: Er las den Brief mit ihr gemeinsam und sagte:
„Ich weiß wirklich nicht viel über MS; wir müssen sehen, was wir zusammen tun können."
Und genau danach haben sie sich seither immer gerichtet, zum großen Nutzen für beide, wie ich sicher annehme! Ähnliches sagte ein anderer Arzt zu seinem Patienten, als es um den Umgang mit Komplikationen der MS ging:
"Sie sind der Experte, sagen Sie mir, was Sie Über dieses Problem wissen, und ich werde mein Bestes tun, um zu helfen."

Um von solchen Reaktionen nicht enttäuscht zu sein, müssen wir bereit sein, selber die Verantwortung für uns zu Übernehmen und die Gegebenheiten realistisch einschätzen: ÄrztInnen sind in der Therapie der MS weitgehend hilflos. Wenn uns jemand helfen kann, wenn jemand Über unseren Körper Bescheid weiß, so sind wir das in erster Linie selber. ÄrztInnen können WegbegleiterInnen sein, und die wohltuende, vielleicht sogar heilende Wirkung eines gelungenen Verhältnisses zwischen ÄrztInnen und Betroffenen sollte nicht unterschützt werden.

Bedeutung für die Weiterbildung zu Peer-CounselorInnen

Für uns als Stiftung LEBENSNERV gehören die ganzheitliche Sicht von Krankheit und das Konzept der Selbstbestimmung und des Empowerments untrennbar zusammen.

Wenn ein selbstbestimmter MSbetroffener Mensch voller Empowerment keine ganzheitliche Sicht der Erkrankung und seines Lebens mit der Krankheit hat und zum Beispiel ausschließlich genetische Faktoren für die Krankheit und ihren Verlauf bei sich und anderen verantwortlich macht, dann führt er oder sie möglicherweise ein durchaus gelungenes Leben mit der Krankheit. Als Peer-CounselorIn der Stiftung LEBENSNERV würde sich diese Person nicht eignen, da eine offene, ganzheitliche, am Individuum orientierte Herangehensweise fehlen würde. Andererseits kann jemand ein ganzheitliches Krankheitskonzept vertreten, selber aber noch auf die Weisheit der Ärzteschaft hoffen und sich selbst klein und schwach fühlen. Auch diese Person eignet sich nicht als Peer-CounselorIn der Stiftung LEBENSNERV, da sie nicht in der Lage wäre, glaubwürdig Selbstbestimmung und Empowerment vorzuleben und so an die Ratsuchenden weiterzugeben.

Deshalb ist es wichtig, dass die Peer-BeraterInnen, die wir als Stiftung ausbilden, beide Aspekte, Empowerment und Ganzheitlichkeit, verinnerlicht haben und sie glaubwürdig nach außen vertreten können.




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