Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/03


Der Heilkundige von morgen -
eine Utopie?

Auszüge aus einem Essay über die Mediziner-Ausbildung
von Frank Nager

Richtungsweisend für die Idee des Arztes in einer menschengerechten Medizin ist nicht die Idealvorstellung der Universität, sondern sind die Bedürfnisse und Erwartungen der Patienten. In jedem Arzt, jeder Ärztin suchen sie den Experten und den Partner. Wenn es uns Ärzten gelingt, dieser Doppelerwartung gerecht zu werden, dann ist unser Beruf faszinierend vielschichtig - als ein seltsam-reiches Gemisch von Wissenschaft, Handwerk, Geschäft, Liebestätigkeit und Kunst. Die Universitäten und die Spitäler pflegen sorgfältig die Elemente Wissenschaft und Handwerk. Die Standesorganisationen kümmern sich legitimerweise zusätzlich um das Geschäft. Die Ingredienzien der Liebestätigkeit und der Kunst, man könnte auch sagen, das Prinzip der Humanität, kommt in der Ausbildung der Ärzte zu kurz. (...)

Die Psychologie und Psychopathologie müssen (in der Mediziner-Ausbildung, d. Red.) einen höheren Stellenwert erhalten. Die Psychosomatik, jene Disziplin, welche Körper und Seele als komplementäre Aspekte einer untrennbaren Einheit behandelt, muss ins Zentrum der medizinischen Bildung rücken. Auch die Medizingeschichte darf nicht länger das Aschenbrödel neben all ihren stolzen Schwestern sein. Unsere in Praxis und Ausbildung einseitig pathogen (auf Krankheit hin) orientierte, verbissen kurative und reparative Medizin muss schon im Studium vermehrt die salutogenetische (gesundheitsbezogene) Dimension pflegen, das heißt, die präventiven, regulativen, adaptiven Potenzen des Menschen, seine ungeahnten Selbstheilungskräfte berücksichtigen. Dementsprechend sollte der angehende Arzt auch vermehrte Möglichkeiten haben, komplementärmedizinische Konzepte kennen zu lernen. Ärzte sollten in erster Linie als Gesundheitserzieher und erst in zweiter Linie als Krankheitsexperten ausgebildet sein. Als Kenner der Krankheiten und ihrer Therapie sollten sie nicht allein die heiltechnisch reparativen Aspekte beherrschen, sondern auch die Kunst des kommunikativen Dialogs. Dasselbe gilt für die heute im Studium vernachlässigten Aspekte der palliativen, rein lindernden Therapie und die Begleitung Sterbender. (...)

Der uns als Ideal vorschwebende integrative Arzt von morgen bemüht sich um eine dreifache Synthese von Komplementen: jene von Verstand und Gefühl, jene von Technik und Sprache sowie jene männlicher und weiblicher Normen. Künftige Ärzte, die Vernunft und Gefühl "versöhnen", kümmern sich ausgewogen um die mathematische, aber auch um die Herzensraison. Als kenntnisreiche Mediziner beherrschen sie ihre medikamentös-apparative Techne.

Als beziehungsfähige Ärzte verkürzen sie die komplexe Wirklichkeit des Patienten jedoch nicht auf das Mess- und Berechenbare, nicht auf das im Ultraschall oder Computertomogramm Sichtbare. Da sie nicht nur Befunde sammeln, sondern auch die Befindlichkeit des Patienten erspüren, können sie wahrnehmen, dass bei vielen Krankheiten nicht allein ein Organ, sondern der Mensch in seiner Ganzheit krank ist, dass beispielsweise herzkrank und "krank am Herzen" miteinander verschlungen sind. Neben der fachlichen Kompetenz als "beobachtende" Experten sind sie auch einfühlsam "innewerdende" Partner und mitschwingende Berater. Im Arzt von morgen erwarten mündige Patienten nicht den "großen Mann im weißen Mantel", der, letztlich unberührt und ohne eigentliche Fühlung zu ihnen, seine Ratschläge erteilt und defekte Organe flickt. Sie wollen nicht den überlegenen und allwissenden Gelehrten, der "monologisch" doziert, rezeptiert, ordonniert und immer recht hat.

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