Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/02

"Zwischen allen Stühlen"?

Laudatio anlässlich des 5. Forschungspreises


von Wilhelm Rimpau

1.

Ich setze bewusst ein Fragezeichen hinter meinen Titel, den ich dem neuesten Büchlein von Lürssen und Ruscheweih im Mabuse Verlag entlehnt habe. Sitzt (oder rollt oder liegt) der/die MS Kranke wirklich zwischen allen Stühlen? Wie geht es neben den Betroffenen ihren Angehörigen und Freunden? Wie geht es uns Pflegenden und Ärzten? Sitzen wir alle zwischen allen Stühlen?

Ich möchte diese pauschale Frage nicht mit ja oder nein beantworten, sondern Probleme nennen und Lösungsversuche anbieten.

Betroffenheit meint uns alle. Natürlich, MS zu haben und darunter zu leiden, ist wirklich etwas anderes, als über MS zu sprechen oder mit MS-Kranken zu leben und umzugehen. Krankheit ist immer mit menschlichem Leben verbunden und trifft mehr oder weniger uns alle. Krankheiten "auszurotten" war immer schon Ziel einer positivistischen Wissenschaft und Medizin. Sie hat durchaus Erfolge, wie etwa die Geschichte der Polio oder Pocken zeigt. Krankheit ist aber komplexer, als dass man sie allein auf einen Erreger oder einen Körperdefekt reduzieren könnte. Krankheit ist an soziale Bedingungen geknüpft, ist immer mit der individuellen Konstitution, Anlage und Biographie verbunden. Wir sind damit zum Handeln, Gestalten, Forschen und vor allem zur Solidarität aufgerufen.

Seit bald 30 Jahren verfolge ich als praktischer Neurologe die Forschungsergebnisse und frage nach den Konsequenzen für Familienmitglieder und Freunde, die unter MS leiden und natürlich im Interesse der Kranken, die sich an mich wenden. Die Grundlagenforschung entdeckt neue Mechanismen der Pathophysiologie dieser Krankheit. Die Neurophysiologie und Technik der bildgebenden Verfahren verbessert die Diagnosemöglichkeit. In den letzten 10 Jahren wurden sicherlich mit der Entwicklung der Interferone therapeutische Möglichkeiten für einige Kranke deutlich verbessert.

Betroffenheit bedeutet aber auch nach der Solidargemeinschaft unserer Gesellschaft beziehungsweise der Krankenversicherten zu fragen. Ich muss leider konstatieren, dass es Zweifel daran gibt, ob die zunehmend teuer werdende Wissenschaft wirklich alle Möglichkeit zur weiteren Erforschung der Krankheit aufwendet. Mehr Sorgen macht mir die Bezahlbarkeit notwendiger Therapien. Wir Ärzte in Praxis und Krankenhaus haben zunehmend Probleme, den Krankenkassen gegenüber Diagnose- und Therapieverfahren zu begründen.

Unser heutiges Symposium ist durch zwei glückliche Ereignisse geprägt. Beide haben eine Biographie. Biographien haben einen Anfang und einen Ort. Ich darf mich quasi als Geburtshelfer und Begleiter beider heute zu würdigenden Ereignisse vorstellen. Der Ort des Geschehens war das Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke. Dort keimte eine Idee, die im November 1991 zur Gründung der "Stiftung LEBENSNERV zur Förderung der psychosomatischen MS Forschung" führte. Im Juni 1993 gestalteten wir in Herdecke einen Workshop unter dem Titel "Möglichkeiten und Grenzen von Psychotherapie bei Multipler Sklerose". Damals habe ich eine kleine Studie präsentiert, die das sogenannte magische Denken bei MS-Betroffenen thematisierte. Heute bin ich glücklich, das inzwischen mit dieser Promotion eine umfassende Untersuchung zu dieser Frage vorliegt.

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