Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/01

Der gut Arzt - Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung.

Eine Buchbesprechung von Wilhelm Rimpau.

Als am 9. November 2000 die Deutschen ihre Verantwortung gegen Ausgrenzung, Hass und Gewalt gegen Minderheiten und Ausländer im Angesicht ihrer Geschichte demonstrativ dokumentierten, bekomme ich (endlich) Klaus Dörners Buch in die Hand und lese es in einem Zuge.

Den Einband schmückt Vincent van Goghs Portrait seines Arztes Dr. Paul Gachet. Wäre es nicht einer schönen Einleitung Wert, die Geschichte dieses Arztes mit seinem "Patienten" Vincent und dem "Dritten", Vincents Bruder Theo zu erzählen? Die Beziehung dieser drei Menschen zueinander ist gewissermaßen die Quintessenz von Dörners Anliegen. In seiner letzten Lebens- und Schaffensphase vermittelt der Galerist Theo in Paris seinem Bruder Vincent in dessen "Anfall geistiger Verwirrung" den Kontakt zu Gachet, der als Arzt und Psychiater, Darwinanhänger und Sozialist, in Künstlerkreisen aber vor allem als Freund, Patron und Sponsor vieler Maler einen guten Namen hatte. Schließlich war er selbst als Maler mit dem Pseudonym Paul van Ryssel berühmt. Er nahm Vincent in sein Haus in Auvers-sur-Oise auf, wusste in Selbstbegrenzung ihm medizinisch nicht helfen zu können, konnte erleben, dass es eher Vincent war, der ihn in seiner Nervosität und überstürzenden Aktivität bremste. Andererseits fühlte sich Vincent "unter der Aufsicht" von Gachet befreit zu seiner letzten Schaffensperiode. Welche Bedeutung mag es haben, dass der sonst immer gesunde und in Sorge um seinen Bruder sich aufopfernde Theo ein halbes Jahr nach Vincents Selbsttötung selber in plötzlicher geistiger Verwirrung sterben musste?

"Lehrbuch" versteht Dörner ironisch: herkömmliche Lehrbücher vermitteln Wissen. Kann es ein Lehrbuch geben, welches Erfahrungen vermittelt? Erfahrungen, aus denen sich meine Grundhaltung entwickeln kann, müssen gemacht werden. Emmanuel Levinas hat nach der Ermordung seiner Familie durch die Nazis gefragt, ob es eine "Philosophie nach Auschwitz" geben könne. Dörner, Levinas, aber vor allem seiner eigenen Erfahrung verpflichtet, versucht Elemente für eine "Medizin nach Hadamar" zu entwickeln.

Dem skeptischen Leser mutet Dörner zu, "über mein langatmiges Gelaber zu stöhnen", verspricht aber, dass es ihm gelingen werde, ein wenig unsere Grundhaltung reifen und Güte zunehmen zu lassen. Das macht es "viel wahrscheinlicher und schneller im Umgang mit Patienten und Angehörigen zur richtigen Stunde, Minute oder Sekunde das richtige (oft nur ein einziges) Wort zu finden. Es gibt keine wirksamere Methode der Zeitersparnis!"
Wir begegnen in Dörners Buch immer wieder Dorothea, seiner Enkeltochter, die in der Familie sechseinhalb Jahre im Wachkoma gepflegt wurde. Er lehrt uns an seinem Beispiel, wie lebenslanges Lernen und Erfahrenwerden zur ärztlichen Kultur werden kann.

Das Buch beginnt mit dem Abschnitt "Sorge um mich selbst" als Exkurs, der Ethik und Ethos problematisiert. Er nennt Prinzipienethik respektlos "Pfropfethik" und zitiert ein Gespräch mit dem erfahrenen Krankenpfleger, der meint: "Ach, wissen Sie, Ethik ist doch nur für Leute, die nicht mehr wissen, was sich gehört". Was sich gehört, erfahren wir sogleich: in unserer Alltagsrealität streben wir in unserer Selbstsorge nach einem guten Leben, streben nach dienlichen Haltungen, Verhaltensdispositionen und normativen Charaktereigenschaften, eben Tugenden. Wir lassen uns nicht einengen durch einen reduktionistischen Wissenschaftsbegriff, sondern erleben uns als Identität, die genügend Tiefe und Komplexität hat, um als Person mit einem Selbst mit den Ansprüchen und Erwartungen anderer Selbsts verbindlich umzugehen. Entsprechend der Stil des Buches: der Leser wird persönlich angesprochen und seine Reaktionen oder Assoziationen von Dörner quasi dialogisch einbezogen. Der Philosoph und Psychiater Dörner erspart dem Leser dezidiert Erfahrungen und Ergebnisse der Psychiatrie (die er mit seinem Buch "Irren ist menschlich" 1996 hinlänglich vermittelt hat).
Philosophische Anregungen und Überlegungen dagegen werden unmittelbar verständlich und ohne Sophisterei auch dem nicht philosophisch Geschulten nahegebracht. Dem Lektor ist zu danken, dass nicht aufwendig in einem Literaturverzeichnis nachgeschlagen werden muss, sondern Literaturbezüge als Fußnote auf der selben Seite im Zusammenhang studiert werden können.

Wirklichkeitsbereiche lassen sich mit "harten" und "weichen" Daten beschreiben. Hier werden die nichtrationalisierbaren Anteile der ärztlichen Existenz nicht wegrationalisiert und damit verdrängt, sondern behutsam der Aufmerksamkeit erschlossen und damit tauglicher für die Güte des Arztes.

Medizin als angewandte Wissenschaft wird zur angewandten Philosophie, wenn nicht allein Kants Frage "was können wir wissen?" sondern auch die Fragen "was sollen wir tun?" und "wie können wir leben?" in der Begegnung mit dem Kranken in Not denkmöglich wird. Die Instrumentalisierung der Medizin ist im Nationalsozialismus am schärfsten zutage getreten: aus der Fürsorge für den Einzelnen ist die Vorsorge für alle geworden, das Individuum dem vermeintlichen gesellschaftlichen Interesse geopfert. Ohne das Engagement eines sich sorgenden Bewusstseins werden alle Patientenrechte und alle professionellen Regeln und Kodizes dieser Welt wenig bewirken können. Schon seit Sokrates gilt es nach wie vor die Frage zu stellen: "worum sorgen wir uns?" Hippokrates hielt Ärzte für gut, wenn sie sich aus fremden Leiden eigene Sorgen bereiten.

Zur "Philosophischen Grundhaltung des Arztes" gehört die Entwicklung pathischer Fähigkeiten, die Kunst des Sicheinlassens. Zum Imperativ der Moderne gehört, dass sich der Mensch allem körperlich und seelisch Pathischen entledige, statt eine "Bereitschaft zur Biographie" zu entwickeln, um schließlich die "Anstrengung der Biographie" aushalten zu lernen. Dörner empfiehlt "praktische Philosophen" wie Sokrates, Pascal, Benjamin, Montaigne, Sloterdijk, Spaemann, Goethe und Nietzsche zu lesen. Der Profit für die Verbesserung unserer ärztlichen Praxis sei garantiert.
Im Kapitel "Von der Sorge zur Verantwortung für den Anderen" wird der Patient als der für mich Fremde vorgestellt, in seiner Andersheit ernstgenommen und schließlich beschrieben, was passiert, wenn man sich seiner konkret-individuellen Fremdheit und Andersheit in der ärztlichen Erstbegegnung aussetzt.
Dörner verdankt Theunissen die Erinnerung daran, dass im 19. Jahrhundert trotz der Angriffe von Marx, Nietzsche und Freud (sic!) das Ich noch "Herr im Hause" war und die Welt sich aneignen, gleichmachen, das Sein und das Denken zur Deckung bringen, den Anderen durch Erkennen, Durchschauen, Behandeln, Verbessern, Veredeln, Kultivieren und sich untertan machen Ziele waren. Erst mit den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert wurde die Selbstherrlichkeit und Fortschrittsgläubigkeit dieses neuzeitlich-modernen Subjekts in Frage gestellt. Mit den "Philosophen des Dialogs" (Martin Buber und Viktor von Weizsäcker) wurden nach dem 1. Weltkrieg für die Medizin die Beziehung, die Wiedereinführung des Subjekts in die Medizin, die "sprechende Medizin" wirksam. Nach dem 2. Weltkrieg war es zunächst Emmanuel Levinas, der die dialogische Medizin, die dyadische Beziehung um ein "Drittes" erweitert. Mit dem Dritten ist die soziale Realität konstituiert, beginnt die Möglichkeit des Vergleichens, die notwendige Relativierung der Radikalität der ethischen Zweierbeziehung der Nähe. Damit wird auf den historischen, sozialen, gesellschaftlichen und politischen Kontext verwiesen. Dies begründet, warum Dörner nach der Sorge jetzt von Verantwortung spricht. In der Erstbegegnung wird in Erweiterung der Begegnung von Arzt und Patient durch Einbezug eines Dritten (Angehörigen) der Königsweg zur Wahrheit nicht allein im Versuch, Subjektives zu objektivieren, sondern durch Überschneidung mehrer subjektiver Perspektiven die Zahl der Ansichten von der Wahrheit vermehrt.

Nach Analyse der praktischen Wissenschaft Medizin, die zunächst Beziehungswissenschaft ist und danach erst Handlungswissenschaft, wird der "Arzt vom Anderen her" beleuchtet. Aus Beziehungsethik, die Sorge und Verantwortung im Auge hat, entwickelt sich eine Handlungsethik. Damit wird ein Kapitel zur Arzt-Patient-Beziehung (im Anschluss an Viktor von Weizsäcker und Thure von Uexküll) eröffnet und in fünf Thesen erläutert. Die paternalisitische Haltung in der Subjekt-Objekt-Beziehung, die partnerschaftliche beziehungsweise gegnerschaftliche Haltung in der Subjekt - Subjekt - Beziehung und die Haltung vom Anspruch des Anderen her in der Objekt - Subjekt - Beziehung sind Merkmale, die die Arzt-Patient-Begegnung charakterisieren können. Die Medizin unterscheidet schon immer Erklären und Verstehen. Dörners Faustregel lautet: "Als Arzt ist es nicht meine Aufgabe, den Anderen besser zu verstehen; vielmehr ist es meine Aufgabe, meine Beziehung vom Anderen her so zu gestalten, dass er sich besser versteht." Im Kapitel "Handeln" wird deutlich, warum Dörners Buch komplementär zu anderen Lehrbüchern, die helfen Wissen anzueignen, hilft, wie man Erfahrung macht und welche Grundhaltung dafür günstig ist.

Im "Arzt vom Letzten her" erläutert Dörner, wie sich seine Grundhaltung im Umgang mit den letzten, schwächsten und damit gefährdetsten Anderen konkretisiert. Er erklärt das an chronisch Kranken, Menschen mit Behinderungen und im Wachkoma.

Das Kapitel "Arzt vom Dritten her" geht davon aus, dass jede ärztliche Situation grundsätzlich nicht nur zwei, sondern stets drei Menschen umfasst. "Wenn ich einem neuen Patienten in der Praxis oder auf der Station zur Begrüßung die Hand gebe, muss ich wissen, dass dies schon mein erster Irrtum ist. In Wirklichkeit gebe ich damit einer Familie die Hand ..." Die Arzt-Angehörigen-Beziehung, "Familienmedizin" und schließlich die Analyse der "Trialogischen Medizin" wird vorgestellt mit der Konsequenz, dass Dörner jetzt nur noch von Arzt - Patient - Angehörigen - Beziehung spricht.

Im "Arzt von der Gemeinde her" wird untersucht, welche Einflüsse, "kommunale Lebenswelten" auf Krankheit und Gesundheit haben und wie "zivilgesellschaftliche Bewegungen" arbeiten und eine "Gemeindeverantwortung des Arztes" zu formulieren ist.
Die "Ärztliche Selbstbegrenzung vom Anderen her" ist eine weitere Herausforderung und "Überforderung". Als Arzt habe ich in allen Richtungen meines Denkens, Handelns, meiner Institutionalisierung zugleich auch immer darauf aus zu sein, mich überflüssig zu machen. Dies wird in den drei Arbeitsfeldern der Praxis, des Krankenhauses und der ärztlichen Selbstverwaltung erklärt.

Dörner beschließt sein Buch mit der "Ärztlichen Selbstbefreiung vom Anderen her". Dies wird an der "Geschichte" (E. Levinas, Z. Bauman), dem "Leib" und der "Technik" deutlich und mündet in der Abschlussformulierung: "Dem guten Arzt ist bei geöffneten medizinischen Augen der ärztliche Augenaufschlag eigen; er hört - getrennt voneinander - die Wünsche und das Wohl der Patienten bzw. der Angehörigen; er ist darauf aus, das Hirnkonzept des Menschen in die größere Weisheit des Leibes einzubetten; und sein schon waches Können und Wissen ist von seinem Gewissen ‚verändert', angerufen, geweckt."

Welchen Nachteil hat Dörners Buch? Den, dass es Leser braucht. Wer liest noch Bücher? Welcher Student oder Arzt oder Wissenschaftler hat noch die Kultur des Lesens geübt? Können wir noch lesen, die wir nur noch mit Prüfungskatalogen, Tabellen, Internet, Zahlenwerken umgehen oder in Büchern allenfalls nachschlagen? Dörners Buch ist ein Beispiel dafür, dass wieder gelesen werden darf, wenn man sich der Bedeutung medizinischer Zusammenhänge für ärztliches Handeln vergewissern will.
Bei der nächsten Auflage mag sich Klaus Dörner dennoch zwingen, Kernaussagen als knappe Kapitelzusammenfassungen zu formulieren. Die "neun Gebote" (S 57-61) zur Haltung bei der Erstbegegnung sind ein praktisches Beispiel angewandter "Philosophie", welches unmittelbar einleuchtet und von jedem jederzeit umgesetzt werden kann.

Dörners Lehr-Buch handelt nicht von Krankheiten, sondern von kranken Menschen und ihren Helfern. Es sei allen empfohlen, die selbstreflektiv den Arztberuf erlernen oder im Beruf merken, dass sie Grenzen haben. Angehörige der Pflegeberufe, Sozial- und Gesundheitsberufe und Therapieberufe finden hier Grundlagen ihres Denkens, Reflektierens und Handelns. Den Reformstudiengängen, die zunehmend häufig Kursangebote machen, in denen nach den Grundlagen ärztlichen Handelns gefragt wird, steht mit Dörners "Der gute Arzt" das einzige und einzigartige Lehrbuch als Grundlage zur Verfügung. Wenn es zur Pflichtlektüre von Harvard-Studenten gehört, Martin Bubers "Ich und Du" von 1921 zu lesen, dann dürfen deutsche Studenten mit Klaus Dörners Buch wieder lesen lernen und neugierig werden und einzigartige Erfahrungen machen. Schließlich sind 2,6 Millionen Betroffene in 70 000 Selbsthilfegruppen engagiert und ihre Frage, ob jeweils ihr Arzt ein guter Arzt ist, findet mit diesem Werk eine Messlatte. Mit Dörners Buch wird über medizinethische Fragen anders nachgedacht, gehandelt und, wo notwendig, entschieden werden müssen.

Klaus Dörner:
Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung.
Schriftenreihe der Akademie für Integrierte Medizin
Stuttgart, New York: Schattauer-Verlag 2001 ISBN: 3-7945-2050-5
334 Seiten, 69,- DM

Prof. Dr. Wilhelm Rimpau ist Chefarzt der Neurologischen Abteilung der Park-Klinik in Berlin-Weißensee

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