Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/01

Meine Entscheidung

Ein 30-jähriger MS-Betroffener schreibt im Folgenden über seinen Entscheidungsprozess, die Interferontherapie zu beenden. Mitte der 90er Jahre wurde MS bei ihm diagnostiziert. Interferone hat er sich bis zum Frühjahr 2001 gespritzt. Diesen Bericht schrieb er im Sommer 2001.
Genau wie der Autor, möchten wir als Redaktion betonen, dass dies kein Appell zum Absetzen von Medikamenten ist. Vielmehr möchten wir mit dem Abdruck dieses Erfahrungsberichtes andere MS-betroffene LeserInnen dazu ermutigen, ihre eigene innere Stimme wahrzunehmen und auf sie zu hören. Wenn Sie Kontakt zu dem Autor aufnehmen wollen, dann schreiben Sie uns - wir leiten Ihre Post gerne weiter.

Für mich war das Jahr, in dem ich die Diagnose Multiple Sklerose erhielt, das Schwerste. Ich war völlig verzweifelt. Die Bestätigung, dass die Jahre zuvor aufgetretenen Sehstörungen nicht nur eingebildet waren, tröstete mich wenig. Ich zweifelte an dem mir vorhergesagten eher günstigen Verlauf. Vielleicht, so dachte ich, wollten die Ärzte mich nur beruhigen.

Nach einem weiteren Schub wurde mir Betaferon1 Fussnote-hin angeboten. Begeistert griff ich zu. Ich hatte natürlich schon zuvor von diesem angeblich revolutionären Medikament gehört. Ich wusste auch, dass es sich bei Betaferon nicht um ein Heilmittel handelt, aber die Chance, meine Krankheit zumindest teilweise aufzuhalten, gab mir sehr viel Kraft und Hoffnung.

Einige Jahre und Schübe später wechselte ich zur hohen Dosis Rebif 2 Fussnote-hin. Ich war aber mittlerweile von der Wirksamkeit der Interferontherapie nicht mehr vollständig überzeugt und nahm zusätzlich Enzyme und homöopathische Mittel. Ich fragte mich, ob mein guter Gesundheitszustand wirklich das Ergebnis der Interferontherapie war, oder ob es mir nicht ohne das Medikament und die damit verbundenen Injektionen und Abhängigkeiten genauso gut gehen würde. Meine Angst vor dem Absetzen des Medikaments war aber sehr groß, denn erstens ging es mir - wie gesagt - vergleichsweise gut und Nebenwirkungen hatte ich nahezu nicht gehabt. Zweitens musste ich laut schulmedizinischer Meinung mit dem sofortigen Verlust der Wirkung des Medikaments rechnen, währenddessen der Neuaufbau des Schutzes angeblich sechs Monate dauern soll.

Als selbst von Schulmedizinern die Wirksamkeit der Interferontherapie für mich bezweifelt wurde, begann bei mir ein tiefer gehender Denkprozess. Zuerst wollte ich "mein Medikament" nicht aufgeben, dann überlegte ich, zu Cop 3 Fussnote-hin zu wechseln und schließlich fragte ich mich, ob derzeit überhaupt ein Medikament sinnvoll war.

Die mit dem Injizieren eines Medikaments verbundenen Abhängigkeiten, wie z.B. die Einhaltung von Zeitpunkt und Ort der Injektion, dem rechtzeitigen Bestellen des Medikamentes einschließlich "Injektionszubehör" und Sicherstellung der Kühlkette besonders im Urlaub, war mir zur Gewohnheit geworden, die ich als unangenehm, aber unvermeidlich empfunden hatte. Es war mir lächerlich erschienen, diese Umstände überhaupt zu beklagen. Jetzt stellte ich fest, dass es erlaubt ist zu klagen. Es wurde mir bewusst, dass ich durch das Medikament sehr eingeschränkt und belastet war. Umsomehr ich nachdachte, desto stärker wurde mein Wunsch nach Unabhängigkeit.

Rein rational erschien es mir logisch, das anscheinend unwirksame Interferon abzusetzen und mich nicht mit dem Wechsel zu Cop in eine neue Abhängigkeit von einem anderen Medikament mit ebenfalls ungewisser Wirksamkeit zu begeben. Emotional war ich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Unabhängigkeit und der Angst vor möglichen Konsequenzen eines Ausstiegs aus der schulmedizinischen Therapie, nämlich der Verschlechterung meines Gesundheitszustandes. Ich versuchte - im Grunde wieder rational - mir meinen Krankheitsverlauf vor Augen zu führen. Hatte sich die Mühe mit dem Interferon gelohnt?
Bereits seit einem Jahr vor Beginn der Interferontherapie ist mein medizinischer Befund relativ gleich bleibend. Während der Therapie blieb die Schubfrequenz zunächst konstant, erhöhte sich aber später. Meine körperlichen Einschränkungen sind nach wie vor vergleichsweise gering, obwohl unterschiedliche Krankheitssymptome hinzugekommen sind.

Eine zwingende Entscheidungshilfe ergab sich daraus für mich nicht, einzig den erneuten Hinweis darauf, dass offenbar andere Einflüsse meinen Zustand zumindest mitbestimmen. Eigentlich wusste ich schon lange, dass mein psychisches Befinden enormen Einfluss auf meinen physischen Zustand hat. Fast alle meine Schübe sind in sehr engem zeitlichen Zusammenhang mit starker psychischer Belastung aufgetreten, wie beispielsweise Tod naher Angehöriger oder Stress im Beruf. In für mich glücklichen unbelasteten Zeiten habe ich Schübe nicht gehabt und krankheitsbedingte Missempfindungen sind nicht oder nur in geringem Ausmaß aufgetreten.

Trotz dieser Erkenntnis habe ich noch monatelang mit mir, vor allem mit meiner Angst gerungen. Meine Entschlüsse haben sich dabei öfters - teilweise stündlich - umgekehrt. Sehr wichtig war für mich in dieser Zeit die Möglichkeit, unbefangen in meiner lebensbegleitenden Beratung über meine Gedanken und Gefühle zu reden. Die Entscheidung musste ich allerdings alleine treffen.

Ich habe mich dazu entschlossen, das Interferon abzusetzen und zumindest vorerst nicht zu einem anderen Medikament zu wechseln. Nachdem ich mich entschieden hatte, fühlte ich mich erleichtert. Mein Arzt hat meine Entscheidung ablehnend hingenommen. Mir ist in diesem Zusammenhang erstmals deutlich aufgefallen, dass der Wunsch, ein wirksames Medikament bei mir anzuwenden, bei ihm auch sehr groß war. Die Schulmedizin wird von den meisten Ärzten offenbar als die einzig mögliche Behandlungsform angesehen, obwohl sie aus meiner Sicht den Beweis der Rechtmäßigkeit ihres Alleinvertretungsanspruches schuldig bleibt. Folglich war die ablehnende Reaktion vorhersehbar. Mich gegen den mahnenden ärztlichen Rat durchzusetzen, war trotzdem eine schwere Probe.

Die angefangene Schachtel des Medikaments habe ich noch aufgebraucht, wohl als "Galgenfrist". Als ich den Tag, an dem ich normalerweise eine neue Schachtel bei der Apotheke hätte bestellen müssen, "ungenutzt" verstreichen ließ, hatte ich das Gefühl, dass meine Entscheidung nicht mehr ohne weiteres umkehrbar war. Das rief bei mir letztmalig eine Verunsicherung, sozusagen "Torschlußpanik", hervor. Meine Entscheidung stand aber fest. Das eigentliche Absetzen, sprich Weglassen der Injektion, ist mir dagegen sehr leicht gefallen.

Einige Wochen später bin ich verreist. Die Reise ist mir sehr gut bekommen. Das Interferon habe ich nicht vermisst. Es ist mir physisch und psychisch lange nicht so gut gegangen. Meine (gesunde) Partnerin fragte mich ironisch anlässlich eines längeren Fußmarsches, bei dem sie Mühe hatte, mit mir mitzuhalten, ob ich mir sicher wäre, krank zu sein, oder ob ich ihr nicht bisher etwas vorgetäuscht hätte. Natürlich bin ich ihretwegen dann etwas langsamer gelaufen. Schließlich muss man auch auf Gesunde Rücksicht nehmen! Im Nachhinein überrascht mich mein eigener Mut zu dieser Reise, die doch mit einigen unvermeidbaren Belastungen verbunden war, aber der Reiz eines Urlaubes ohne ständige Berücksichtigung der Abhängigkeit von Medikamenten war zu groß. Ich habe nichts zu bereuen.

Heute geht es mir gut. Ich bin mir sicher, das Richtige getan zu haben. Erst jetzt erkenne ich, wie groß vor allem meine psychische Abhängigkeit von "meinem Medikament" gewesen ist. Manchmal erscheint mir mein früherer Glaube, ein Medikament allein könne meine Probleme lösen, direkt naiv. Physisch fühle ich mich deutlich belastbarer. Statt des befürchteten Absturzes ist eine Besserung eingetreten. Die schulmedizinischen Möglichkeiten werde ich auch in Zukunft nutzen. Eingriffe in mein Leben aber nur, wenn sie für mich absolut überzeugend und unumgänglich sind.
Mein Erfahrungsbericht ist kein Aufruf zum Medikamentenausstieg. Jeder MS-Betroffene kann und muss für sich selbst entscheiden, welche Therapie für ihn von Nutzen ist. Schließlich ist jeder Verlauf individuell.


1 Ein Interferonpräparat

2 Ebenfalls ein Interferonpräparat einer anderen Firma

3 Glatirameracetat, bekannt als COP-1

voriger Artikel ** nächster Artikel
Inhalt von FP 2/01 ** FP-Gesamtübersicht
Startseite