Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/00

Erzählen von Krankheit und Behinderung als Identitätssuche und Bewältigung

Festvortrag von PD Dr. Gabriele Lucius-Hoene, Universität Freiburg

Teil 1 von 4 Teilen

Entsprechend dem Wunsch der Veranstalter dieses Festakts möchte ich meinen Vortrag dem Thema des Erzählens von Krankheit und Behinderung widmen - ein Thema, denke ich, in dem wir alle an Vertrautes anknüpfen können, so dass ich es sehr gern in diesem Rahmen aufnehme. Als Einstimmung möchte ich Ihnen eine kleine Episode aus dem autobiographischen Erzählinterview einer Frau im mittleren Lebensalter, die an Multipler Sklerose erkrankt ist, wiedergeben. Vor dieser Episode ist sie in ihrer Lebenserzählung gerade an einem Punkt angelangt, an dem sie über neue positive Entwicklungen ihres Befindens berichtet und dann darüber reflektiert, dass diese Veränderungen natürlich nur langsam gehen können und der Körper sich nach so vielen Erkrankungsjahren nicht ganz plötzlich regenieren kann. Sie erzählt folgendermaßen:

man hat nicht viel gemerkt en kleines bißchen war immer weg nach jedem Anfall. und über 24 Jahre, da ist da ne gan- ganze Menge natürlich bis sich das jetzt wieder aufbaut. der Körper braucht Zeit. das hat mir ne alte Frau im Krankenhaus in B. gesagt. ne ganz alte klapprige Frau die ganz ganz tapfer immer ihre Runden durch die Neurologie gezogen hat und ich war natürlich ungeduldig, hab mich grad wieder nach meiner Cortisonkur da auch rumgetrieben in den Gängen und hab mich mit ihr unterhalten, und die sagte mir (bedächtig) tja der Körper braucht Zeit und das klingt vielleicht komisch aber daran denke ich jetzt oft wenn ich wieder mal so denke ich trage das ganze Leid der Welt auf meinen schwachen Schultern (lacht) und dann denke ich auch wieder Mensch hab ich ein Glück gehabt dass ich diese alte Tante da getroffen habe weil und dass ich jetzt an die denken kann.

Worin besteht die besondere Wirkung von solchen erzählten Lebensgeschichten oder lebensgeschichtlichen Episoden? Wie ist es zu erklären, dass autobiographische Erzählungen - nicht nur solche, die literarischen Status haben und publiziert werden, sondern gerade die alltäglichen Erfahrungsgeschichten von Menschen - in den letzten 10 bis 15 Jahren eine große Beachtung in den Wissenschaften gefunden haben - in den Geschichts- und Sprachwissenschaften, der Psychologie, der Soziologie und nicht zuletzt in der Medizinischen Psychologie und Medizinsoziologie? Vor allem im englischen Sprachraum ist die Befassung mit "illness narratives", mit Erzählungen von Krankheitserfahrungen, zu einer eigenen und expandierenden Forschungsrichtung geworden.

Um dieses Phänomen zu begreifen, müssen wir uns zunächst Gedanken darüber machen, was Erzählen eigentlich ist. Das Erzählen von sich selbst, von dem, was wir gerade erlebt haben, wie etwas war, ist eine unserer alltäglichsten Aktivitäten. Über Erzählungen tauschen wir uns mit anderen Menschen aus und lassen sie an unseren Erfahrungen teilhaben, vor allem aber gießen wir auch das, was uns ständig im Alltag widerfährt und wie wir uns damit auseinandersetzen, in Erzählungen für uns selbst, für die inneren Selbstgespräche, mit denen wir uns unserer selbst und unserer Welt vergewissern. Die Allgegenwärtigkeit des Erzählens lässt uns vergessen, dass in der Art und Weise, wie wir diese Erzählungen gestalten, ein wichtiges Erkenntnisinstrument, ein zentrales Mittel unserer Wirklichkeitserfassung und -gestaltung liegt.

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