Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Ausblick - Plädoyer für mehr Eigenverantwortung

von Sigrid Arnade

Bleibt zum Schluss die Aufgabe, ein Fazit zu ziehen: Ich denke, dass das Fazit für den Bereich der Forschung schon im letzten Abschnitt des Literaturüberblicks formuliert wurde: Ein Plädoyer für die individuelle Sicht in der Forschung, die auf die gewohnten Schubladen verzichtet. Doch was ist das Fazit für MS-betroffene Leserinnen und Leser? Ich persönlich halte viel davon, Symptome in der Art von Sattmann-Frese - oder wie es im einleitenden Aufsatz eines MS-Betroffenen geschildert wurde - zu interpretieren und nach der Bedeutung für den Einzelnen zu fragen. Es ist meiner Meinung nach kein Zufall, dass wir ausgerechnet dieses oder jenes Symptom entwickeln. Um die Sprache der Symptome zu verstehen, finde ich zwei Fragen wichtig: Zum einen: Was will gerade dieses Symptom mir gerade jetzt sagen? Oft wird man keine Antwort finden. Aber manchmal ist es auffällig, welche Symptome zu welcher Zeit mit welchen Lebensumständen auftreten. Zumindest im nachhinein habe ich schon oft Erklärungen gefunden.

Die meiner Ansicht nach zweite wichtige Frage in diesem Zusammenhang lautet: Welche Vorteile habe ich eventuell durch dieses Symptom? Was ermöglicht es mir, was ich sonst nicht bekomme? Ich will damit nicht sagen, dass diese Erkrankung toll oder erstrebenswert ist, geschweige denn, dass irgend jemand sie bewusst herbeigeführt hat oder gar selbst schuld ist. An dieser Stelle noch eine Anmerkung von mir zur Frage der Schuld: Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch in jeder Situation so gut agiert und reagiert wie er oder sie kann. Wenn dem Körper kein anderer Lösungsversuch als MS einfiel, so ist das bedauerlich, hat aber nichts mit Schuld des Betroffenen zu tun. Statt sich selbst Vorwürfe zu machen, sollte man oder frau eher für die Zukunft nach Wegen suchen, schwierige Lebenssituationen zu bewältigen, ohne mit Krankheitssymptomen reagieren zu müssen.

Zurück zur Frage des Krankheitsgewinns: Ich denke, dass diese Frage helfen kann, das Symptom zu verstehen und eventuell überflüssig zu machen. Im Gegensatz zu Sattmann-Frese bin ich allerdings der Ansicht, dass nicht alle Symptome verschwinden, wenn man sie versteht. Ich glaube vielmehr, dass es auch irreversible Schäden des ZNS gibt. Aber wer weiß? Wichtig ist aus meiner Sicht, ein ganzheitliches Verständnis für das Leben mit der Erkrankung an MS zu entwickeln und sich die Bedeutung für die eigene Identität klarzumachen.

Deshalb halte ich es für wichtig, bei sich selbst genau hinzuschauen: Was hilft, was hilft nicht, was brauche ich, wie bekomme ich es, was erhöht meine Lebensfreude und Lebenszufriedenheit? Natürlich kann niemand sich sein Leben so einrichten, dass es ihm oder ihr ständig super geht. Aber wenn man um die gefährlichen Momente weiß, kann man sich im Zweifelsfall Unterstützung holen, beispielsweise durch erfahrene BeraterInnen oder TherapeutInnen.

Wenn MS-betroffene Menschen dahin kommen, mehr Eigenverantwortung im Umgang mit ihrer Erkrankung an MS zu übernehmen, kann das ein Ende der Hilflosigkeit und den Anfang eines sinnvoll gestalteten Lebens mit der Krankheit bedeuten. Denn denjenigen, die selbst Verantwortung übernehmen, geht es nach meiner Erfahrung zumindest seelisch besser, weil sie sich nicht mehr so ausgeliefert fühlen. Das sollte allerdings ohne Allmachtsphantasien und ohne den Druck geschehen, alles im Griff haben zu müssen, denn sonst ist der nächste Frust vorprogrammiert. Ich persönlich bin allerdings davon überzeugt, dass in jedem Menschen große Potenziale von Selbstheilungskräften schlummern, die es zu entdecken und zu aktivieren gilt!

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