Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Teil 2 (letzter Teil): "Zu psychosomatischen Aspekten der Multiplen Sklerose" von Dr. Eckhard Danegger

Der Erfüllung von Wünschen anderer steht die Vernachlässigung eigener Bedürfnisse und Gefühle gegenüber.

Aus der hohen Bereitschaft zur Erfüllung der Wünsche anderer scheint sich sozusagen als Kehrseite die mangelhafte Fähigkeit zur Wahrnehmung eigener Bedürfnisse und sogar eigener Gefühle (Angst wird kaum wahrgenommen) zu ergeben. Bei allen, die sich durch ihr Antwortverhalten als „verschlossen“ erweisen, war biographisch entweder eine intensive und enge Mutterbeziehung oder aber ein Mangel an Aufmerksamkeit und Interesse seitens der Eltern in der Kindheit zu finden. Wahrscheinlich aufgrund einer in diesen Erfahrungen begründeten Ausgestaltung der „internalisierten Objekte”, zeigen diese MS-Patienten trotz großer persönlicher Probleme in der Regel keine Motivation zu einer Psychotherapie. Hier scheint ein unlösbares Dilemma zwischen dem Wunsch nach „Regression in geschützter Abhängigkeit” und gleichzeitig großer Angst vor einer dadurch möglicherweise bedingten ängstigenden Verunsicherung oder gar Identitätsdiffusion zu liegen.

Zu einer wesentlichen Frage in der Pathogenese der MS liegen bisher ebenfalls keine systematischen Studien vor: in welcher Weise wird bei MS-Patienten das psycho-neuro-immunologische System durch Formen maligner (ungünstiger, d.Red.) Stressbelastung, durch Angst oder depressiver Gefühle beeinflußt? Henningsen (1993) beschreibt die gegenwärtige Sachlage folgendermaßen: „Psychoneuroimmunologische Befunde im Kontext der MS existieren auf drei Ebenen: einer morphologisch-physiologischen zur Feinstruktur der durch Immunozyten und Antikörper induzierten Veränderungen an Zellen des Nervensystems, daneben gibt es Verhaltensuntersuchungen mit Tieren, die an einer Autoimmunerkrankung mit ZNS-Beteiligung erkranken sowie psychologische und immunologische Verlaufsuntersuchungen mit Patienten, die an MS erkrankt sind.” Eine der wenigen Studien zum letzteren Typ hat z.B. ergeben, dass das Ausmaß von Depression mit bestimmten Veränderungen des Immunsystems (Verhältnis von CD4 zu CD8-T-Lymphozyten) parallel geht (Foley et al 1992). Zu diesem Komplex sind erst wenige Studien erfolgt und multimodale Langzeituntersuchungen, die psychische und psychosoziale Faktoren in der Pathogenese ebenso berücksichtigen, wie immunologische Prozesse oder pathophysiologische Daten, stehen noch aus.

In Anbetracht der hohen interindividuellen Variabilität der Krankheitsverläufe bei MS-Patienten und der nur geringen prospektiven Qualität krankheitsbezogener Faktoren, wie beispielsweise der initialen Symptomatik oder dem Ausmaß der neuroradiologisch erfassbaren Lokalisation oder Gesamtgröße der zerebralen Entmarkungsherde, sind dringend auch psychologische und psychosoziale prädiktive Faktoren in Betracht zu ziehen. Für den weiteren Krankheitsverlauf von an Morbus Crohn (einer „klassischen” psychosomatischen Krankheit) erkrankten Patienten kam der Qualität der Compliance (Beziehung zwischen Arzt und Patient, d.Red.) und bestimmter coping (Umgang mit der Krankheit, d.Red.) -Strategien in ihrem prädiktiven Wert eine größere Aussagekraft zu, als den krankheitsspezifischen Parametern (Kordy/Neumann 1992).

Aufgrund der in den Interviews gewonnenen Einschätzung ist der Verfasser der Ansicht, dass sich eine ähnliche Konstellation hinsichtlich der prädiktiven Qualität psychologischer Faktoren ebenso für den Verlauf der “Multiplen Sklerose” ergeben könnte. Im weiteren scheint für den Verlauf einer MS-Erkrankung auch die soziale Integration (Partnerschaft, Familie, Freunde) und Unterstützung wichtig zu sein, deren Bedeutung vor allem von den bereits länger Erkrankten in den Gesprächen oft betont wurde. Für diejenigen, die sich vor Ausbruch der Erkrankung in hohem Maße mit ihrer beruflichen Tätigkeit und den darin erbrachten Leistungen identifiziert hatten und darin viel Bestätigung fanden, erwiesen sich immer die krankheitsbedingten körperlichen Einschränkungen als eine Quelle permanenter Frustrationen und Kränkungen.

In dieser Studie wurde den Aspekten der Krankheitsverarbeitung, den individuellen „Coping”-Mustern weniger Beachtung geschenkt als den biographischen Entwicklungsbedingungen und den „Life-Events”. Außer den krankheitsunspezifischen Coping-Mustern, wie sie beispielsweise auch in der vergleichenden Studie von Muthny für eine Gruppe von MS-Patientinnen untersucht wurden, sind bei MS-Betroffenen einige spezifische Probleme vorhanden, denen bislang ebenfalls zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde:

  1. die Bedeutung der „Unberechenbarkeit” der Krankheitsentwicklung für die alltägliche Lebenspraxis und die sozialen Beziehungen.

  2. die Frage, wann und wie sich „Schübe” andeuten und welche „Früh-oder Warnsymptome” (von denen einige Betroffene berichten) zu erkennen sind und

  3. welche Möglichkeiten der Lebensführung gleichsam als frühe Reaktion auf sich ankündigende Verschlechterungen es gibt, mit dem Schübe eventuell vermieden werden könnten.

  4. die Bedeutung des Verlustes grundlegender körperlicher Funktionen wie Gehen, Sehen, sich kontrolliert Bewegen können, Wahrnehmung und Fühlen auf die Regulation des Selbstwertgefühls.

  5. die Veränderung der „psychischen Balance”, die durch eine Schwangerschaft einer an MS erkrankten Frau zu erwarten sind. Die in der Literatur zum Thema Schwangerschaft bei MS (z.B. bei Bauer 1995) zu findenden Beschreibungen klammern auf eine reduktionistische Weise die subjektive Bedeutung von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett der Betroffenen für das potenziell erhöhte Risiko eines neuen Schubes völlig aus. Liegt es nicht nahe, anzunehmen, dass Freude und Zufriedenheit über die Mutterschaft mit all ihren vermuteten Folgen eher einen protektiven Wert besitzen und eine große Angst vor oder Ambivalenz gegenüber dieser neuen „Aufgabe” eher zur Auslösung neuer Schübe beiträgt?

Es wären noch eine Fülle weiterer wichtiger Themen zur Krankheitsverarbeitung bei MS-Erkrankten zu nennen. Als wesentliche Aspekte für die weitere Entwicklung scheinen alle Lebensbereiche gelten zu können, denen eine hohe individuelle Bedeutung für die Regulation des Selbstwertgefühls, die körperliche Integrität und die Autonomieproblematik zukommt.

Anmerkung

Erstveröffentlichung in FORUM PSYCHOSOMATIK 1/96.

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