Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Teil 2: "Zerstören oder zerstört werden" von Irene Misselwitz

Abbildung 4 zeigt, wie der Patient seinen Körper beim Visualisieren zum Zeitpunkt der Entlassung Anfang Februar 1988 sieht.

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  Abb. 4"  
  Abb. 4: Darstellung der Visualisierung  

Der Körper ist vollständig, klar und in freundlicheren Farben gemalt. Auch der Schwamm mit Heilbalsam wirkt nicht mehr zerstörerisch.

Zu gleicher Zeit malte er dieses Bild:

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Abb. 5 "Jahreszeit"

 
  Abb. 5: "Jahreszeit"  

Wir sehen einen schönen herbstlichen Baum mit Krone und etwas schwachen Wurzeln. Die leere Bank wirkt jedoch sehr verlassen. Wir müssen uns eine nochmal so große Bildfläche, völlig leer, rechts davon vorstellen. Die Fotografin hat leider nicht das ganze Blatt Papier aufgenommen.

Zum Zeitpunkt der Entlassung ist der Patient neurologisch fast symptomfrei, psychisch ausgeglichen und mit Frau und Kind in gutem Einvernehmen. Beiden Partnern ist bewusst, dass ihnen der emotionale Austausch schwerfällt und beide sehr einsam sind.

Die ambulante Behandlung gestaltete sich sehr wechselvoll. Konflikte mit den Eltern und Beziehungsstörungen zu seiner Frau oder zu mir gingen immer mit massiver Symptomverstärkung, zeitweise frischen Schüben mit Sehstörungen. Paraparese der Beine, wechselnden Sensibilitätsausfällen, Gangataxie (Koordinationsstörungen beim Gehen, Anm. d. Red.) und Benommenheit einher, trotz täglichen Visualisierens. Das ist immer wieder ein schwerer Schock für den Patienten. Einmal sagte er mir, dass er am liebsten den Faust‘schen Pakt mit dem Teufel schließen würde, um eine Schub-Auslösung zu verhindern.

Erst nach erfolgreicher Beziehungsklärung und Konfliktbearbeitung wirkte das Visualisieren positiv. Mich hat jedesmal beeindruckt, wie rasch dann die neurologischen Ausfälle verschwanden. Meist brauchte der Patient 10–14 Tage intensiven täglichen circa zweistündigen Visualisierens zur Symptombeseitigung. Die von mir vorgeschlagene Prednisolonbehandlung schob er dann immer wieder hinaus, und bisher war sie nur einmal notwendig bei einer schweren Dekompensation im Zusammenhang mit dem politisch-sozialen Wandel im Frühjahr 1990.

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Abb. 6

 
  Abb. 6: Darstellung der Visualisierung nach
Dekompensation mit Retrobulbärneuritis
 

Das ist das Bild nach einer Dekompensation mit Retrobulbärneuritis links (schmerzhafte Entzündung des Sehnervs, Anm. d. Red.), ausgelöst durch einen Konflikt mit dem Vater und mit der Ehefrau. 14 Tage retrobulbäre (hinters Auge, Anm.d.Red.) Prednisoloninjektionen bewirkten nichts, erst die Annäherung beider Partner in einem gemeinsamen Gespräch mit einem Therapeutenpaar löste die innere Spannung und den Groll des Patienten. Nach zehn Tagen intensiven Visualisierens war die Sehkraft fast völlig wiederhergestellt. Wir sehen den Kopf, die Augen mit der Sehnervenkreuzung und den Körper des Patienten, wie er sich als in sich ruhende Einheit während des Visualisierens erlebt. Die Farben sind noch lebendiger und freudiger als im letzten Bild. Häufig erlebt er tiefe beglückende meditative Stadien. Ich zitiere: „Das Visualisieren gibt mir ein völlig neues Gefühl für meinen Körper. Ich fühle mich in meinem Körper wohl und eins mit ihm. Das ist für mich ein wertvolles Gefühl und mit NICHTS zu vergleichen - eigentlich nicht beschreibbar.“ Ein anderes Mal sagte er: „Ich trete mit meinem Körper in Beziehung, streichle ihn von innen und unterstütze durch bildliche Kommunikation die Heilung meines Körpers.“ Je besser es ihm geht, je heller und freudiger sieht er die Farben. Er hat das Gefühl, der Krankheit nicht mehr ausgeliefert zu sein, sondern selbst aktiv damit umgehen zu können.

Zur gleichen Zeit, also nach der Wiederherstellung der Sehkraft, malt der Patient das Bild „Mein Leben jetzt“:

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Abb. 7 "Mein Leben jetzt"

 
  Abb. 7: "Mein Leben jetzt"  

Wir sehen ihn jetzt mit seiner Familie fest verbunden. An der anderen Seite hat er sich mit seinem kranken Körper liebevoll an die Hand genommen, das heißt, er kann jetzt sich selbst auch mit der Krankheit annehmen. Der Schmetterling soll seine Seele im Tod darstellen. Er sagt dazu, dass er die Angst vor dem Tod überwunden hat.

Neurologisch hatte der Patient zu diesem Zeitpunkt noch geringe Sensibilitätsstörungen im rechten Arm und eine leichte Gangataxie. Er war dabei, eine MS-Selbsthilfegruppe in Jena mit Hilfe der Rehabilitationskommission aufzubauen.

Anfang 1989 verabschiedete sich der Patient aus der Behandlung mit der Bitte, sich im Notfall wieder an mich wenden zu können. Es ging ihm gut, seine Frau hatte sich inzwischen ebenfalls in psychotherapeutische Behandlung begeben.

Es kam die Wende. Hin und wieder sah ich den Patienten bei einer öffentlichen Protestveranstaltung. Im Februar 1990 meldete er sich wegen eines depressiven Verstimmungszustandes. Er berichtete, dass einige seiner engsten Freunde in die Bundesrepublik gegangen seien, was er als schweren Verlust erlebt habe. Massiv verschlechtert habe sich jedoch seine Stimmung erst, nachdem er seinen alten Vater in ein Pflegeheim geben musste. Von einem Tag zu anderen sei aus einem „mächtigen Tyrannen“, wie er sagte, ein hilfloser Greis geworden. Die Parallele zu den politischen Ereignissen, dem Untergang der DDR, war evident. Plötzlich hatte sich alles, Vater und Staat, wogegen er innerlich und zum Teil auch äußerlich protestiert hatte - er war Anfang 1989 sogar aus der SED ausgetreten - in Nichts aufgelöst. Der Patient fühlte sich leer und ratlos, als ob er nun umstürzen müßte, nachdem der heftige Gegendruck plötzlich weggefallen war.

Ein neuer Schub trat auf, als der Patient erfuhr, dass sich Rentenberechnung, Beihilfesätze, Mieten und ähnliches ändern werden. Er konnte, wie viele ehemalige DDR-Bürger, die massiven Veränderungen des Alltags nicht verkraften, geriet in Panik und musste mit einer akuten spastischen Paraparese der Beine in die Neurologische Abteilung aufgenommen werden. Er erholte sich unter Prednisolon und psychotherapeutischer Mitbehandlung physisch und psychisch relativ rasch. Doch er musste noch mehr Prüfungen bestehen. Im Herbst erfuhr er, dass seine Frau die Scheidung beabsichtigte. Das war der härteste Schlag für ihn. Es folgten lange Monate, in denen der Patient tief depressiv, agressiv und suizidal (selbstmordgefährdet, Anm.d.Red.) war. Es war sehr schwer, diese Zeit mit ihm gemeinsam auszuhalten, auch seine aggressiven Ausbrüche zu ertragen. Er blieb am Leben und meinte später, dass er das ohne Psychotherapie nicht geschafft hätte.

Viel Phantasie und Geduld sind erforderlich

Ab Sommer 1991 ging es ihm besser, und er lernte eine neue Partnerin kennen. Er sagte später darüber: „Ich wollte mein Leben 1991 so ähnlich fortführen wie vor meiner Scheidung, meine Bekannte quasi als Ersatz für meine Ehefrau. Heute weiß ich, dass es so nicht geht. Aber wie?“

Im Frühjahr 1992 trat wieder ein schwerer Schub auf, der ihm den Rollstuhl brachte. Er war zudem enttäuscht, zurückgezogen, depressiv-aggressiv, ohne Lebensmut. Er fühlte sich von allen enttäuscht und verlassen, auch von mir und der Psychotherapie.

Inzwischen ist ein zweites Jahr vergangen, und der Patient ist wieder einen wesentlichen Schritt vorangekommen. Zur Zeit ist er trotz Rollstuhls aktiv und kontaktfreudig. Die Therapieunterbrechung durch meinen Weggang für einige Monate hat er bisher gut verkraftet. Ich meine, dass die Wende durch die Bearbeitung der symbiotischen Beziehung zu mir zustande kam. Er wehrte sich zunächst heftig gegen meine diesbezügliche Deutung und drohte mit Behandlungsabbruch und Suizid. Allmählich wurde er freier und konnte aktiv und erfinderisch das neue beschwerliche Leben als Rollstuhlfahrer gestalten und wieder Kontakte pflegen. Er lernte, Hilfe und auch das Alleinleben anzunehmen. Er visualisiert unverändert regelmäßig, ein neues Bild habe ich noch nicht von ihm bekommen. In depressiven, verzweifelten Phasen sind die Vorstellungsbilder düsterer und kraftloser als in ausgeglichenen Lebensabschnitten.

Zusammenfassend möchte ich sagen, dass analytische Psychotherapie und Visualisierung bei MS einen hohen Einsatz und viel Phantasie und Geduld von Patient und Therapeut erfordert. Nach meiner Erfahrung sind nur wenige Patienten zu soviel Selbsthilfeengagement, wie es das Visualisieren erfordert, zu gewinnen. Alleiniges Visualisieren ohne Bearbeitung der aktuellen Lebenskonflikte ist nach meiner Erfahrung auch nicht wirkungsvoll. Ich verzichte nie auf die Forderung, die Visualisierungsbilder aufmalen zu lassen, da sich so unbewusste Gegenkräfte gegen das Gesundwerdenwollen leichter erkennen lassen.

Auch wenn Kritiker die biologische Wirksamkeit der Visualisierungstechnik anzweifeln, fördert sie doch den Gesundungswillen und ermöglicht dem Patienten eine aktive Einstellung seiner Krankheit gegenüber.

Insgesamt habe ich in den letzten drei Jahren weitere Erfahrungen mit drei Krebspatienten, zwei Hepatitiskranken (Leberkranken, Anm.d.Red.) und einer Schwangeren mit einer schweren Blutgruppenunverträglichkeit gesammelt. Ich halte das genannte Behandlungskonzept für sehr wirkungsvoll, motivierten Patienten mit chronischen Organerkrankungen, wie es auch die MS ist, sowohl bei der Krankheitsbewältigung als auch bei der eigenen Beeinflussung des Krankheitsverlaufes Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.

Anmerkung

Dieser Beitrag von Irene Misselwitz und der Nachtrag zur Methode von Sigrid Arnade erschienen erstmals in FORUM PSYCHOSOMATIK, 1/94.

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