Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Zerstören oder zerstört werden

Aggressionen bei der psychotherapeutischen Behandlung der MS

von Irene Misselwitz, mit einem Nachtrag zur Methode von Sigrid Arnade

Teil 1 von 3 Teilen

Übersicht

Teil 1 Einleitung
Umgang mit Aggressionen
Technik der Visualisierung
Teil 2 Viel Phantasie und Geduld sind erforderlich
Anmerkung
Teil 3 Nachtrag zur Methode
von Sigrid Arnade

 


Einleitung

Die MS hat mich schon von klein auf beschäftigt. Meine Großmutter, eine gewaltige Frau, ehemals aus ärmlichen, bäuerlichen Verhältnissen stammend, wurde in ihren mittleren Jahren von dieser geheimnisvollen Krankheit befallen. Mein Großvater, ein preußischer Beamter, der seine schöne, tüchtige Frau zum Repräsentieren brauchte, ließ sich nach der Flucht aus Ostpreußen von ihr scheiden. Da er zu aufwendigen Unterhaltszahlungen verpflichtet war, befragte er den behandelnden Arzt, wie lange seine ehemalige Frau wohl noch leben würde. Der Arzt beruhigte ihn mit den Worten „höchstens 2-3 Jahre“. Die Krankheit verlief während der Kriegs- und Fluchtjahre rasch progredient, so dass diese Einschätzung einleuchtend erschien.

Mein Großvater teilte ihr hocherfreut die ärztliche Prognose mit, was bei meiner Großmutter allerdings die entscheidende Wende beim Krankheitsverlauf einleitete. Wie oft habe ich sie in meiner Kindheit erzählen hören, dass in diesem Moment ein unbändiger Zorn und Lebenswille in ihr aufgestiegen sei und sie sich geschworen habe, „Na warte, ich werde Dich überleben!“ Sie hat Recht behalten. Sie lebte noch über 40 Jahre im Rollstuhl und hat während der ganzen Zeit erfolgreich um Unterhaltszahlungen gegen meinen Großvater prozessiert und damit uns im Osten unterstützt. Beide starben hochbetagt an Krebs, sie eineinhalb Jahre nach ihm, im inneren Frieden und mit Gottvertrauen, mit 84 Jahren.

Ich habe sowohl in der Literatur als auch im Kontakt mit MS-Kranken häufig bestätigt gefunden, dass unter anderem der Umgang mit Aggressionen von zentraler Bedeutung für den Verlauf dieser Erkrankung ist.

Umgang mit Aggressionen

Es geht ums Zerstören oder Zerstört werden, das heißt entweder kann der Kampf um das eigene Lebens- und Überlebensrecht aufgenommen werden, oder die Krankheit nimmt einen zerstörerischen Verlauf.

Ich möchte diese These anhand des psychotherapeutischen Behandlungsverlaufes eines jungen Mannes mit einer chronisch progredienten MS untermauern.

Es handelt sich um einen 35-jährigen Mathematiker, der im November 1987 in die stationäre Psychotherapie-Abteilung der Universitäts-Nervenklinik Jena überwiesen wurde. Es wurde zunächst 12 Wochen stationär und dann überwiegend ambulant nachbehandelt. Die neurologische Diagnostik und Behandlung übernahm die neurologische Abteilung unserer Klinik. Seit 1987 wurden noch mehrere kurze stationäre Aufenthalte notwendig, zum Teil zur Krisenintervention, zum Teil nach Auftreten eines frischen Schubes.

Nun zur Vorgeschichte: Der Patient stammt aus sozial schwierigem Milieu, der Vater ist Alkoholiker. Die Ehe der Eltern wurde früh geschieden, der Patient fühlt sich jedoch bis heute ständig von beiden Eltern ausgenutzt und hin und her gerissen. Er war ein wildes aggressiv-trotziges Kind, hatte im Betragen die Note vier, aber sonst sehr gute Schulleistungen. Von der Jugendweihe an lernte er, innere Spannungen, Aggressionen und Enttäuschungen mit Alkohol zu betäuben und war etwa vom 17. Lebensjahr an abhängig. Studium, Eheschließung, Geburt der Tochter, Arbeit in einem Jenaer Großbetrieb verliefen äußerlich normal, waren jedoch durch Alkohol und Ehekonflikte schwer belastet.1982, im 29. Lebensjahr, trat der 1. MS-Schub auf mit einer spastischen Paraparese (unvollständige Lähmung, Anm.d.Red.) der Beine, einer spinalen Ataxie (rückenmarksbedingte Koordinationsstörung, Anm.d.Red.), einer Hypästhesie (herabgesetzte Empfindung von Berührungsreizen, Anm.d.Red.) beider Hände und Füße und Sehstörungen. Nach stationärer Behandlung mit Prednisolon in unserer Neurologischen Abteilung war er völlig frei von Symptomen. 1984 trat der 2. Schub auf, der dann in einen chronischen Verlauf mit leichter Progredienz überging. Das verstärkte die tiefe Lebensunzufriedenheit des Patienten, und er bat nach zwei Jahren um ambulante psychotherapeutische Mitbehandlung. In der Poliklinik diagnostizierte die Psychologin sehr schnell den Alkoholismus, und der Patient ist seitdem „trocken“. Nun trat die chronisch depressive Symptomatik und Suizidalität (Selbstmordgefährdung, Anm.d.Red.) noch deutlicher in den Vordergrund, was schließlich zur Einweisung zu uns führte. Diagnostisch handelt es sich also um eine chronisch progrediente MS, um einen Alkoholismus in der kritischen Phase und eine neurotische Entwicklung bei schizoid-hysterischer Persönlichkeitsstruktur.Der Behandlungsverlauf soll anhand von Bildern des Patienten verdeutlicht werden:

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  Abb. 1 "Mein Leben"  
  Abb. 1: "Mein Leben"  

In der Abbildung 1 „Mein Leben“ sieht der Patient zu Beginn der Behandlung seine Situation: Durch einen unüberwindlichen Riesenberg ist er von Familie und Kind, die das Wichtigste für ihn sind, getrennt. Er selbst hat das Gefühl, von riesigen Felsbrocken erschlagen zu werden. Neurologisch weist er zu diesem Zeitpunkt folgende Symptome auf: Rechts betonte leichte spastische Paraparese der Beine, Benommenheit sowie Verschwommensehen.

Technik der Visualisierung

Die stationäre und später ambulante Einzelbehandlung erfolgt hauptsächlich durch:

  1. Informationsvermittlung über die MS und krankheitsgerechtes Verhalten und Krankheitsbewältigung. Dazu gehört auch die Invalidisierung und Aufnahme einer Teilbeschäftigung, die zunächst für den Patienten eine schwere narzistische Kränkung darstellte.
  2. Analytische Einzeltherapie oder, wie wir in der DDR wegen der offiziellen Diskriminierung der Psychoanalyse sagen mussten: Dynamische Einzeltherapie
  3. Autogenes Training mit Visualisierung
  4. Spezielles Yoga-Programm für MS-Kranke

Die Technik der Visualisierung verläuft folgendermaßen: Der Patient erlernt das autogene Training. Er wird über die physiologischen Abläufe der Erkrankung und ihrer Heilung informiert. Dann entwickelt er mit Unterstützung des Therapeuten ganz individuelle, für ihn verständliche Analogien zu den physiologischen Heilungsvorgängen. Dies ist oft eine lange Arbeit. Diese Bilder stellt er sich dann im autogenen Zustand intensiv vor, 20 Minuten oder länger.

Den Charakter der Visualisierung können wir an den danach angefertigten Bildern gut erkennen:

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  Abb. 2  
  Abb. 2: Darstellung der Visualisierung
am Anfang der Behandlung
 

Auf Abbildung 2 sehen Sie die Darstellung der Visualisierung am Anfang der Behandlung.
Der Körper ist unvollständig, irgendwie verletzt, zerrissen mit blutroten Nervensträngen gemalt. Ähnlich wie bei einer Autowaschanlage streichen Bürsten mit Balsam über die krankheitszerfressenen Nervenscheiden. Man sieht sehr schnell die Autoaggressivität in diesem Bild. Darauf angesprochen, berichtete der Patient nach einigem Zögern, dass sich immer wieder Messer in seine Vorstellung einschlichen. Erst die Fortschritte in der dynamischen Einzeltherapie, in der er zunehmend lernte, in der therapeutischen Beziehung auch seine aggressiven Anteile auszudrücken und anzunehmen, machten es ihm möglich, Vorstellungen mit überzeugender Heilkraft zu entwickeln.

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  Abb. 3 "Traum"  
  Abb. 3: "Traum"  

Auf der Abbildung 3 sehen wir ein Traumbild. Der Patient träumte immer wieder, wie er auf einen großen, schwarzen, zottigen, traurigen Hund einschlug und dann tieftraurig, manchmal weinend aufwachte. Er möchte ihn eigentlich wie hier streicheln können, was für ihn so viel bedeutet, wie seine eigenen dunklen Seiten annehmen zu können.

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