Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00 |
Teil 2: "Die Medizin braucht mehr "weibliches" Denken", Interview mit Mechthilde Kütemeyer
ÄP: Und Sie meinen, dass Erinnern weiterhilft?
Kütemeyer: Erinnern hilft oft mehr als technische Kunst, Anamnese
ist unser bestes Instrument. Wir brauchen eine Kultur der Anamnese in der
Medizin. Oft wird auf ein Leidens-Angebot, zum Beispiel chronische Schmerzen,
chirurgisch reagiert, anstatt versucht zu verstehen. Verstehen
würde bedeuten, die Erinnerungs-Traumen aufzuspüren, anstatt sie mit
dem Messer herauszuschneiden.
ÄP: Aber wenn
operiert wird, sind die Schmerzen wenigstens weg.
Kütemeyer: Es ist viel zu wenig bekannt, dass persistierende
(psychogene) Schmerzen sich nach Operationen auch nach diagnostischen
Eingriffen nicht nur nicht bessern, sondern meist drastisch
verschlimmern und ausweiten nach Mitteilungen aber mildern. Ich gebe
Ihnen ein Beispiel:
Einer 40jährigen Frau wurde wegen eines Mamma-Karzinoms die rechte Brust abgenommen. Vier Wochen später kommt sie wieder zur Arbeit, traut sich nicht zu sagen, was geschehen ist, will dieselbe spielen wie früher aber das geht nicht. Sie bekommt multiple Schmerzen, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Narbenschmerzen. Ihr Arzt, der versteht, spricht mit ihr durch, wie sie es anfangen könnte, dass sie ihren traumatischen Verlust offenbart. Sie beginnt, mit einer Kollegin darüber zu sprechen, später mit anderen; das schlimme zusätzliche Leiden, der Druck der Geheimhaltung, verschwindet, ebenso die Schmerzen.
ÄP: Sind diese Beispiele nicht zu schön, um wahr zu
sein?
Kütemeyer: Solche überraschenden
Heilungsvorgänge glaubt nur, wer sie erlebt hat. Denn sie kollidieren mit
unseren naturwissenschaftlichen Vorstellungen vom Körper. Eine Lehre von
der pathogenen Wirkung vergessener, geheimgehaltener Traumen, verleugneter
Gefühle, von der heilenden Wirkung von Erinnerung und Mitteilung auf die
Körperfunktionen fehlt noch weitgehend in der medizinischen Ausbildung.
Hier kann man sich an die Entdeckungen der Psychoanalyse halten. Bisher haben
wir eine dürftige Nutz-Physiologie, diese bedarf einer
lustbiologischen Ergänzung, so hat es der Psychoanalytiker
Ferenczi, der Lehrer von Balint, schon 1923 gesagt.
ÄP:
Was meinen Sie mit lustbiologisch?
Kütemeyer:
Wir müssen Erfahrungen darüber sammeln, wie der Körper,
kommunikativ, in Abhängigkeit von unterdrückter oder mitgeteilter
Freude und Lust, von geheimgehaltenem oder geteiltem Leiden funktioniert. Ein
Beispiel:
Eine 41jährige Schulpsychologin leidet seit Beginn ihrer milde verlaufenden MS vor 7 Jahren unter einem lumbalen Wundschmerz, der sich zeitweise wie Stromstöße in beide Arme und Beine ausbreitet. Entsprechend dem Vorbild ihrer übergesunden Mutter kann sie ihre Beschwerden diskrete ataktische Gangstörung, Taubheit und Kältegefühl in den Beinen ebenso ihre Kränkbarkeit und Wehrlosigkeit in Beziehungen gut verbergen, zeigt sich äußerlich strahlend, kräftig, emanzipiert. Meine MS ist nicht sichtbar, auch den Schmerz kann man nicht sehen. In einer Psychotherapie lernt sie, ihre Beschwerden und körperlichen Schmerzen genauer wahrzunehmen, Erschöpfung zu zeigen, schmerzhafte Erlebnisse und Gefühle mitzuteilen, wobei die Kreuzschmerzen abklingen.
Nutzphysiologisch würde man für die Schmerzen eine MS-bedingte Radikulitis, Spastik oder Verspannung durch die Gangstörung die vielleicht sogar ursprünglich vorhanden waren verantwortlich machen. Lustbiologisch wird klar: der Raum, den der Schmerz in der therapeutischen Beziehung einnehmen darf, macht den Körperschmerz überflüssig. Ich sage Ihnen ein weiteres Beispiel, in dem das Lustbiologische noch offensichtlicher ist:
Eine junge Frau mit Myasthenie kann ihre Hausarbeit kaum mehr verrichten, beim Geschirrspülen versagen die Arme den Dienst, beim Einkaufen knicken die Beine ein; bei Festlichkeiten kann sie ohne Mühe nächtelang tanzen.
Frau Ulm, die Leiterin der Parkinson-Klinik in Kassel, berichtet, dass
man bei Klinikfesten die Kranken von den Gesunden kaum unterscheiden kann.
Solche Fluktuationen der Symptomatik bei einer körperlichen Erkrankung
sind nur lustbiologisch zu erklären, nutzphysiologisch bleiben sie
widersinnig. Der Körper ist eine Landkarte von freud- und
leidvollen Erinnerungsspuren. Die Erinnerungsspuren nehmen im
Körper einen bestimmten Raum ein und eine bestimmte Gestalt an. Man darf
sich das tatsächlich räumlich vorstellen, man muss sein Herz
ausschütten, durch Kommunikation kann man das Leiden wirklich
weg-räumen.
ÄP: Über die Ängste
reden macht noch mehr Angst.
Kütemeyer: Weil es verboten
ist, gegen die Konvention geht, man (Mann) keine Angst hat. Meist sind es
falsche Rücksichten, Familien-Credos (Ein echter Meier weint
nicht!), Familiengeheimnisse (Darüber spricht man
nicht!), pathologische Ideale, Leistungs-, Durchhalteparolen, Liebes-,
Harmonie-Ideale, pseudo-christliche Ideale durch die bestimmte Trauer-, Angst-
oder Lustgefühle unterdrückt werden. Entgegen diesen Idealen Angst zu
zeigen, macht Angst. Wir brauchen eine Pathologie und Pathosophie, die uns
lehrt, wie Zeigen bzw. Verbergen von Gefühlen mit körperlichen
Symptomen, mit Besserungen und Verschlimmerungen von Krankheiten
zusammenhängen.
ÄP: Heißt das, jeder Arzt
sollte psychoanalytisch ausgebildet sein?
Kütemeyer: Ja.
Balint hat für Sozialarbeiter, Krankenschwestern/ Pfleger, für den
normalen Arzt ein Instrument, einen Klopfkurs für
Kommunikation entwickelt. Prof. Köhle hier in Köln hat nachgewiesen,
dass die Sensibilität der Ärzte für Mitteilungen ihrer Patienten
nach einem Jahr Teilnahme an einer Balint-Gruppe signifikant zugenommen hat.
Bereits vor sechs Jahren wurde vom Berliner Ärztekammer-Präsidenten
Huber gefordert, kein Arzt dürfe ohne Balint-Gruppe die Approbation
erhalten. Auch ein Quantum Selbsterfahrung wäre zu fordern. Vermutlich
könnten dann bald viele unnötige und evtl. schädliche
Medikamente und apparative Untersuchungen eingespart und aus dem
finanziellen Überschuss alle lern- und gesprächswilligen arbeitslosen
Ärzte mühelos bezahlt werden!
ÄP: Wird der Arzt dann nicht abgelenkt von seinen
diagnostischen Aufgaben?
Kütemeyer: Es geht um ganz
einfache Dinge. Wir verlassen uns in der Diagnose und Therapie fast nur auf
technische Befunde. Das Zuhören, die Anamnese, selbst die körperliche
Untersuchung, treten dabei in den Hintergrund, vor allem das Tasten. Das Tasten
wird an die Krankengymnastinnen abgetreten, deren Wahrnehmungen
unterschiedliche Konsistenz der Muskeln, Tonuserhöhungen usw. aber
für die ärztliche Diagnose meist nicht genutzt werden. Die moderne
Medizin ist körperscheu, körperfern geworden.
Sie können ein Leben rekonstruieren, indem Sie den Rücken abtasten. Was hat ein Mensch gemacht, dass seine Muskeln entlang der Wirbelsäule bretthart geworden sind? Sie stehen hinter dem Patienten und sagen: Das ist hart, wie ein Brett, wie ist denn das entstanden? Wenn Sie mutiger sind, fragen Sie: Wie haben sie das gemacht? Und der hartgesottene Mann, der gerade noch nach einer Operation verlangte, er bricht in Tränen aus; plötzlich offenbart sich ihnen ein anderer Mensch, einer, der sein Herz ausschüttet. Indem Sie die Muskeln des Patienten abtasten, Ihre Wahrnehmungen austauschen, kommt, wie von selbst, seine Geschichte zutage, die den Tastbefund erläutert. Erfahrungen, Untersuchungsmethoden dieser Art könnten die Medizin verändern.
Endoskopien und Angiographien, auch Computertomographien, die so eindrucksvoll das Innere des Körpers darstellen, würden wesentlich ergänzt durch weiblich-einfühlende, empathische Untersuchungsmethoden, die Erinnerung darstellen. Letztere erfordern assoziatives, bildhaftes, hermeneutisches, im Gegensatz zum kausalen, deduktiven, konkretistischen Denken. Diese Art der Wahrnehmung, der Sinnesarbeit, des weiblichen Denkens braucht die Medizin.
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