Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Schuld oder Verantwortung?

von H.-Günter Heiden

Schuld, Verantwortung, Schuldgefühle, Scham, schlechtes Gewissen, Versagen, Fehler, – allein beim Schreiben dieser Substantive macht sich bei mir ein drückendes Gefühl in der Magengegend bemerkbar, ein Gefühl, das ich tausendfach erlebt und durchlebt habe, ein Gefühl mit unendlich vielen dunklen Gesichtern – der „Stachel des Lebens“ , wie Oscar Wilde es einmal ausdrückte.

Gerade bei einer ganzheitlichen Betrachtung von Krankheit spielt der Komplex „Schuld/Verantwortung“ eine wichtige Rolle. So lehnen viele Menschen eine psychosomatische Sichtweise ab, weil sie meinen, wenn auch das „Psychische“ für das Entstehen und den Verlauf der Krankheit mitbedeutend ist, wenn die Krankheit eben nicht nur durch einen zufälligen Schicksalsschlag entstanden ist, dann sind sie auch „selbst schuld“!

Und wenn dem so ist, dann müsste die Krankheit, wenn sie es nur richtig machen, ja durch eigene psychische Anstrengungen auch wieder wegzukriegen sein. Wenn das wider Erwarten aber nicht klappt, haben sie sich nicht genug bemüht, haben sie schon wieder versagt, sind sie wieder „selbst schuld!“ Ist dies wirklich so?

Zu eben dieser Frage „Schuld und Verantwortung bei der psychosomatischen Sichtweise“ möchte ich Ihnen drei Texte vorstellen, die zwar schon einige Jahre alt sind, aber dennoch nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben. Ich erhebe damit nicht den Anspruch, das Thema vollständig abzudecken, ich möchte Sie lediglich einladen, sich auf diese Frage mit Hilfe der Texte einmal einzulassen und darüber nachzudenken.

Beginnen möchte ich mit dem Buch „Aufbrechen. Schuld als Chance“ von Heribert Fischedick. Danach folgt der Aufsatz von Verena Kast „Die Verantwortlichkeit des Patienten für die Krankheit - Konsequenzen psychosomatischer Sichtweise.“. Den Abschluss bildet der Essay von J.Michael Russel „In Ketten frei? – Über Sartre, Gestalttherapie und Verantwortung“.

Fischedick ist Therapeut und Theologe zugleich und wurde in beiden Arbeitsbereichen zentral mit dem Erleben von Schuld und Schuldgefühlen konfrontiert. Er kennzeichnet das Erleben von Schuldgefühlen als einen mehrdimensionalen Vorgang, der sich sowohl auf der Verstandesebene („das hättest du nicht tun dürfen“) als auch der Körperebene (z.B. Empfindungen im Magen-Darmbereich) ausdrückt.

„Gefühlsmäßig werden die Schuldgefühle als Spannungszustand erlebt, der auf Beseitigung drängt.“ (S. 37)

Durch diese Schuldgefühle, so Fischedick, werde Angst zur Triebfeder der Lebensführung, die dadurch aber eine außengesteuerte bleibe. Die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit und Identität werde so verhindert.

Im weiteren macht Fischedick eine wichtige Unterscheidung: Er trennt begrifflich das „materialistische“ von dem „existenziellen Schuldverständnis“.

Das materialistische Schuldverständnis orientiert sich am traditionellen moralischen System (Gott-Eltern-Gesellschaft), das Regelverstöße einer Autorität gegenüber streng ahndet und in einem dualistischen Weltbild nur „gut oder böse“ kennt. Schuld wird als Abweichen von einer vorgegebenen Norm gesehen. Die Folge ist eine innere Zerrissenheit, „die darum weiß, den Forderungen nicht gewachsen zu sein und deshalb diesen Schatten ständig unterdrücken, verdrängen und verleugnen muss.“ (S. 81).

Im Gegensatz dazu steht das existenzielle Schuldverständnis, das Fischedick nach Erich Fromm auch das „humanistische Gewissen“ nennt. „...es ist die eigene Stimme, die in jedem Menschen spricht und die von keiner äußeren Strafe und Belohnung abhängt...Handlungen, Gedanken und Gefühle, die ein richtiges Funktionieren und die Entfaltung unserer Gesamtpersönlichkeit fördern, rufen ein Gefühl der inneren Zustimmung, der Richtigkeit hervor.“ (S. 90)

Aus einem solchen Schuldverständnis ergibt sich nach Fischedick eine Lebensweise, in der der Mensch „sich nicht mehr als Erfüller von Handlungsanweisungen und als von Ängsten und Zwängen Getriebener (erlebt), der etwas tun oder sein muss (kursiv i.O.), sondern als Persönlichkeit, die im Denken, Fühlen und Handeln sich selbst ausdrückt, also etwas tun und sein kann (kursiv i.O.).“ S. 92).

Fazit: Schuldgefühle sind unvermeidbar, sie gehören zum Leben, ich muss jedoch unterscheiden lernen, aus welcher Art Schuldverständnis sie herrühren und versuchen sie zu verstehen, sie anzunehmen und sie leben zu lassen. So kann ich Verantwortung für mein Leben übernehmen und nicht aus schlechtem Gewissen heraus in Selbstbekämpfung beziehungsweise Autoaggression verfallen.

Verena Kast sieht in ihrem Aufsatz die Schuldgefühle als „Kehrseite der Verantwortung“ (S.24), die als Nebenwirkung des Paradigmenwechsels in der Medizin entstanden seien. Wenn in der Wissenschaft die ursprüngliche Sichtweise der Dualität Körper-Seele aufgegeben wurde und nun von einem fundamentalen Zusammenwirken von Körper und Psyche ausgegangen wird, so hat dies auch in der Alltagserfahrung der Patienten Konsequenzen und Nebenwirkungen: „Viele Menschen leben noch im alten Dualismus. Das bedeutet auch, dass man an körperlichen Krankheiten weniger, an psychischen bedeutend mehr schuld ist.“ (I,S.22)

Bei einer neuen, einer psychosomatischen Sichtweise „wird das Kranke am Menschen, das, was ihn an seine Vergänglichkeit erinnert, nicht delegiert, sondern in die eigene Verantwortlichkeit genommen.“ (ebd.)

Meine Krankheit hat etwas mit mir zu tun ...

... und wenn ich verantwortlich damit umgehe, sind folgende Fragen für mich wichtig: „Was bedeutet diese Krankheit gerade jetzt für mich? Welche Botschaften könnte sie mir geben? Wie kann ich mich in meiner Krankheit so wohl als möglich fühlen? Bringt sie eine notwendige Ruhepause? Wozu brauche ich die?“ (I,S.24)

Wenn diese Verantwortlichkeit aber so begriffen wird, dass es nicht mehr darum geht, wie ich mit meinem Körper umgehe, sondern wie das Fehlfunktionieren zu vermeiden gewesen wäre, gerate ich auf die andere Seite der Medaille: die Schuldgefühle. Sie rühren laut Kast von Allmachtsphantasien her, gehen von einer Vorstellung der absoluten psychische Verfügbarkeit aus: Das „Scheitern (ist) vorprogrammiert und notgedrungen mit Schuldgefühlen verbunden.“ (II,S.24)

Kast plädiert ebenfalls dafür, die Schuldgefühle nicht zu vermeiden, sondern einen sinnvollen Umgang mit ihnen zu erlernen. Ähnlich wie Fischedick unterscheidet sie zwischen existenziellen und neurotischen Schuldgefühlen. Erstere werden leicht in letztere umgedeutet. Folge: „Es wird nicht erkannt, dass das Schuldgefühl Ausdruck dafür ist, dass etwas Neues, eine Aufforderung zu neuem Leben an uns ergeht, sondern sie werden nun als Ausdruck eines Versäumnisses interpretiert… . Dieses Umdeuten … ist einem Entwicklungsmodell verpflichtet, das nicht davon ausgeht, dass der Mensch sich stufenweise entwickelt, sondern dass von Anfang an alles perfekt sein und gelebt werden müßte.“ (II,S.27)

„Im Hinblick auf den Umgang mit dieser neurotischen Form von Schuldgefühlen scheint mir dreierlei wichtig zu sein: Es ist auf die Wut anzusprechen, die die Krankheit ausgelöst hat und auf die damit verbundene Angst, zudem aber auch auf die existenziellen Schuldgefühle hinzuweisen, mit ihrer Funktion, uns unserer Existenz mehr und wesentlicher zu verbinden. Es muss deutlich werden, dass Schuldgefühle zur Verantwortlichkeit gehören.“ (II,S.28).

Der Begriff der Verantwortung steht besonders im Essay von J. Michael Russel im Vordergund. (Es handelt sich hierbei übrigens um einen Aufsatz, der bereits 1978 geschrieben und erst 1989 aus dem „American Journal of Psychoanalysis“ übersetzt wurde.)

Russel beginnt seinen Essay mit einem bemerkenswerten Zitat von Fritz Perls, dem Begründer der Gestalttherapie: „Solange man ein Symptom bekämpft, wird es schlimmer. Wenn man Verantwortung übernimmt für das, was man sich selber antut, dafür, wie man seine Symptome hervorbringt, wie man seine Krankheit hervorbringt, wie man sein ganzes Dasein hervorbringt – in dem Augenblick, in dem man mit sich selbst in Berührung kommt – , beginnt das Wachstum, beginnt die Integration, die Sammlung.“ (S.2)

Damit diese Worte von Perls aber nicht wieder den Effekt hervorrufen, dass man ja doch „selbst schuld“ sei, wenn vom „Hervorbringen der Krankheit“ die Rede ist, ist es wichtig, den Begriff der Verantwortung zu verstehen. Russell stützt sich dabei im Wesentlichen auf Gedanken von Sartre, der sagt, dass der Mensch „… was seine Seinsweise betrifft, verantwortlich (ist) für die Welt und für sich selbst.“ (S.14). Diesen Gedanken der Verantwortung verdeutlicht Russell durch vier Prinzipien:

„1. Ich bin verantwortlich für die Bedeutung, die ich meiner Situation geben.
2. Ich bin verantwortlich für das, was ich in Bezug auf meine Situation tue oder unterlasse.
3. In der gegebenen Situation bin ich der, der ich entscheide zu sein und als der ich micht durch meine Handlungen konstituiere, auch dafür bin ich verantwortlich.
4. Wenn sich Emotionen beziehungsweise körperliche Zustände als mit Handlungen logisch verwandt betrachten lassen, dann bin ich in der gegebenen Situation auch verantwortlich für meine Gefühle beziehungsweise körperlichen Zustände.“(S.14)

Zur Verdeutlichung des Begriffs der Verantwortung noch ein abschließendes Beispiel (nach Russell): „Wenn ich Kopfschmerzen habe, bin ich mit Sicherheit dafür verantwortlich, welche Bedeutung diese Schmerzen in meinem Leben bekommen … . Ich muss mich entscheiden, ob diese Kopfschmerzen so unerträglich sind, dass ich unmöglich heute mit meinem Therapeuten weiterarbeiten kann, auch wenn ich diese Schmerzen just in dem Moment entwickelt haben sollte, in dem wir mit der Exploration bestimmter Gefühle begannen, die ich bezüglich einer Person aus meiner Vergangenheit erfahren haben.“ (S.14/15).

Bibliografische Angaben:

Fischedick, Heribert:
Aufbrechen. Schuld als Chance.
München, Kösel-Verlag 1988, ISBN: 3-466-36308-X.
Kast, Verena:
Die Verantwortlichkeit des Patienten für die Krankheit.
Niedersächsisches Ärzteblatt, Hefte 20 + 21, 1986.
Russell, J.Michael:
In Ketten frei? Über Sartre, Gestalttherapie und Verantwortung.
PBZ-Publikationen, Heft 8, Würzburg 1989.
Bestelladresse: Zentrum für Gestalttherapie, Kardinal-Döpfner-Platz 1, W-8700 Würzburg

(Erstveröffentlichung in Rundbrief Nr. 2, Winter 1992/93.)

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