Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Teil 2: "Psychosomatische Behandlungsmethoden" von Reinhard Plassmann

1. Die Arbeit mit einem erweiterten Krankheitsmodell

Die Medizin definiert sich bekanntlich gerne als theoriefrei. Sie liebt es, sich als praktische Naturwissenschaft zu verstehen, die eigentlich keiner Theorie bedürfe. Die Folge hiervon ist, dass es an den Universitäten keine Lehrstühle für Theorie der Humanmedizin gibt und die Studenten im Medizinstudium auch so gut wie nichts erfahren über die theoretischen Grundlagen, die unserem Krankheits- und Behandlungsverständnis zugrunde liegen. Dies beginnt sich erst in den letzten Jahren zu ändern.

Welche Vorstellungen, welche „Landkarten“ benutzen wir, um Krankheit im allgemeinen und speziell psychosomatische Krankheit zu begreifen?

Es gibt, wie Sie wissen, Straßenkarten, Wanderkarten, Wetterkarten, geographische Karten, und analog dazu kann auch das Phänomen Krankheit sehr wohl unter verschiedenen nebeneinander gültigen Aspekten betrachtet werden. Bei aller Verschiedenartigkeit der Aspekte lassen sich aber die Annahmen, die heute von Krankheit gültig sind, auf einige Grundideen, auf sogenannte Paradigmen zurückführen. Der Begriff des Paradigmas, 1962 von Kuhn eingeführt, hat sich als sehr fruchtbar erwiesen. Ein Paradigma, wörtlich übersetzt ein Beispiel, ist eine definierte, grundlegende Modellvorstellung, mit der ein Teil der Realität beschrieben und erklärt werden kann.

Welche Paradigmen werden benutzt, um zu erklären, was Krankheit sei, welche Paradigmenwechsel haben sich ereignet? Welche Modellvorstellungen benutzen wir heute? Geordnet nach der Reihenfolge ihrer Entstehung handelt es sich um

Krankheit als Funktionsstörung

Das erste naturwissenschaftliche Modell solcher Art war die hippokratische Humoralpathologie etwa im 4. Jahrhundert vor Chr. Große Teile unseres Paradigmas von Krankheit als Funktionsstörung gehen auf die griechische hippokratische Medizin zurück. Die griechische Medizin erkennt zuerst die heute selbstverständliche Bindung des Menschen an einen lebendigen Körper an, der auch Störungen entwickeln kann. Dieses Denken befreit aus der Vorstellung eines Beherrschtseins von Geistern und zugleich wird eine naturwissenschaftliche Erklärung für Krankheit erforderlich. Die hippokratische Säftelehre, die Humoralpathologie, erklärte zahlreiche Krankheiten als gestörtes Mischungsverhältnis von Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle. Störungen konnten entstehen durch falsche Ernährung oder Lebensweise und durch Umwelteinflüsse. Dieses erste naturwissenschaftliche Modell von Krankheit verlangte natürlich auch nach einem Ersatzmodell für das früher als magisch gedachte Belebtsein des menschlichen Körpers. Anstelle der Dämonen trat nunmehr die sogenannte Physis, das heißt die Naturkraft. Diese, eine nicht übernatürliche, sondern natürliche Lebenskraft, sorgte für die gesunde Mischung der Säfte und wurde bei Störungen aktiv, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Der Kampf der Physis gegen die schlechte Mischung der Säfte führte zuerst zu einer Ansammlung scharfer, ungesunder Säfte, dann zur Fieberreaktion, welche die schädlichen Säfte beeinflussen, gleichsam kochen sollen und schließlich zur Krisis, das heißt zur Ausscheidung des Schädlichen als Eiter, Urin, Durchfall oder Schweiß.

Auch in Bezug auf Psychotherapie hat sich in der griechischen Medizin ein sehr pragmatischer, das heißt ein diesseitiger, nicht mit magischen Erklärungen operierender Ansatz entwickelt. Sokrates beispielsweise benannte seine Art der Gesprächsführung bei bestimmten psychischen Störungen als sogenannte Hebammentherapie. Er verwendet in diesem Ausdruck die Geburt als Gleichnis dafür, dass manche Menschen einen bestimmten Gedanken nicht zu Ende gedacht und ihn nicht ausgedrückt das heißt gleichsam geboren haben. Er versteht sich selbst als Helfer, der bei dem Finden und Formulieren dieses Gedankens unterstützt, ohne ansonsten viel Eigenes beizutragen. Dieser Ansatz ist heute noch selbstverständlicher Bestandteil der Psychotherapie. Die zweite Wurzel unseres Paradigmas von Krankheit als Funktionsstörung liegt im kartesianischen Denken, das heißt in der französischen Aufklärung und macht uns heute noch viel zu schaffen. René Descartes, 1556-1650, hat mit seiner Philosophie der Aufklärung auch die Krankheitslehre sehr stark beeinflußt. Der Körper sollte nunmehr als Maschine gedacht werden, welcher den Naturgesetzen der Mechanik, der Chemie und auch der Elektrizitätslehre gehorchte. Mit dieser Annahme war die Hoffnung verbunden, durch eine perfekte Erforschung der Funktionsweise des Körpers letztlich zu einer Überwindung der Abhängigkeit vom Körper, zu einer Überwindung aller Krankheiten und zu einer vollkommenen Körperbeherrschung zu gelangen. Die res cognitans, das denkende Prinzip, sei das eigentlich Menschliche, während der Körper dem ganzen Bereich der res extensa, das heißt dem Dinglichen, angehörte. Beide Prinzipien, das Psychisch-Seelische und das Körperliche wurden als grundverschieden und miteinander nicht in Beziehung stehend gedacht. Die Folge war ein rapider Abbau aller Hemmungen, sich mit dem Körper wie mit jedem anderen Objekt naturwissenschaftlich zu beschäftigen. Die Säkularisierung der Medizin setzte ein, Ärzte mussten nunmehr nicht mehr Priester sein, sondern akademisch ausgebildete Spezialisten. Die Entdeckung des Blutkreislaufs 1628 durch Wiliam Harvey war eine der ersten spektakulären Ergebnisse dieses neuen Denkens, wobei Harvey den Blutkreislauf nur entdecken konnte, nachdem er vorher rechnerisch bewiesen hatte, dass die große Menge vom Herz ständig geförderten Blutes gar keine andere Möglichkeit erlaube, als die Annahme eines Kreislaufs.

Wenn das Psychische als res cognitans gedacht und vom Körperlichen, der res extensa, strikt getrennt wird und zwischen beiden auch keine Beziehung angenommen wird, so ist es ebenfalls unmöglich, sich den Körper als, wie Heigl-Evers ausdrückte, „Bedeutungslandschaft“ vorzustellen. Der Zugang zur Bedeutung von Krankheit als Ausdruck, als Sprache ist dem kartesianisch-mechanischen Denken versperrt. In diesemPunkt setzten die ersten psychosomatischen Erklärungsmodelle an. Der Körper wird als Ort verstanden, an dem Unbewusstes zum Ausdruck kommt, das heißt sich körperlich symbolisiert und an dem unbewusste Konflikte gelöst werden sollen.

Krankheit als Sprache

Der Ausgangspunkt diese Krankheitsverständnisses ist die Erkenntnis, dass Krankheiten Chiffren sein können, in denen sich Unbewusstes ausdrückt. Krankheiten werden damit zum Gegenstand einer hermeneutischen Betrachtungsweise, welche den Sinn des Krankseins durch geeignete Methoden wieder verständlich macht. Damit entsteht die Notwendigkeit einer psychologischen Medizin und im Bereich der Metapsychologie das Bedürfnis nach einer „Grammatik“, welche Entstehung und Bedeutung dieser Krankheiten, als Chiffren verstanden, erklärt.

Während sich die Theorien hiermit noch schwer tun, sind wir es im allgemeinen Sprachverständnis selbstverständlich gewohnt, unsere innere Befindlichkeit in körperlicher Repräsentanz auszudrücken. Man ist hartnäckig, man hat an etwas zu schlucken, man könnte die Hände ringen, man hält den Atem an, etwas geht zu Herzen, an die Nieren, man bekommt kalte Füße, man fiebert etwas entgegen.

Wie sieht nun eine wissenschaftliche Grammatik, eine Dechiffrierung des Zeichens Krankheit aus? Es würde im Rahmen dieser Einführung zu weit gehen, alle Konzepte analytischer Psychosomatik hierzu ausführlich zu referieren. Es mag praktikabler sein, einige Grundprinzipien herauszuarbeiten und mit ihren Beschreibern zu verbinden.

Ungeteilte Übereinstimmung besteht dahingehend, dass es unbewusste Phantasien und Affekte seien, die auf dem Wege der Somatisierung das körperliche Geschehen in krankmachender Weise beeinflussen können. Dies ist das hermeneutische Prinzip der Psychosomatik. Das krankhafte körperliche Geschehen kann, weil es Unbewusstes zum Ausdruck bringt und durch Unbewusstes beeinflusst wird, nicht einfach durch Nachfragen, durch Exploration des Patienten verstanden werden. Was für andere Ausdrucksweisen des Unbewussten wie beispielsweise Träume oder freie Assoziation gilt, trifft auch für psychosomatische Krankheiten zu; deren Bedeutung ist dem Kranken selbst nicht oder nur zum Teil bewusst.

Dieses hermeneutische Prinzip in der Psychosomatik wurde von niemand konsequenter vertreten und angewandt als von Georg Groddeck, der den Körper wie ein beliebig formbares, plastisches Material ansah, in welchem sich das Unbewusste in völliger Freiheit ausdrückte. Es war für ihn selbstverständlich, dass schwerwiegende körperliche Erkrankungen wie Lungenblutungen, Unterleibsblutungen, auch Krebserkrankungen als Ausdrucksgeschehen verstanden und behandelt werden können.

Zweites Grundprinzip bei der Auffassung von Krankheit als Sprache ist das entwicklungspsychologische Prinzip. Denkt man sich die Entwicklung des menschlichen Fühlens und Denkens als Abfolge einer Reihe von definierten Entwicklungsschritten, so kommen körperlich überwiegend solche Phantasien zu Ausdruck, die frühen Entwicklungsphasen entstammen. Der Rückgriff auf den Körper als Ort des Ausdrucks wird gleichsam als Rückkehr in eine archaischere, ursprünglichere, primitivere und entwicklungspsychologisch frühere Sprachform verstanden. Max Schur spricht von Desomatisierung und Resomatisierung. Desomatisierung ist die Überwindung des ausschließlich körpergebundenen Ausdrucks, an dessen Stelle psychische Repräsentanzen treten. Im Vorgang der Resomatisierung geht diese Fähigkeit verloren. Der gleiche Gedanke ist auch im Konzept der zweiphasigen Verdrängung von Mitscherlich enthalten.

Grund für diesen Rückgriff auf den Körper als Ausdrucksorgan ist jeweils ein unlösbares Problem, ein unerträglicher Konflikt, ein nicht verarbeitbarer Objektverlust, was zu einer Stimmung der Hilf- und Hoffnungslosigkeit führen kann, wie Engel und Schmale dies ausdrücken. Im Rückgriff auf den Körper liegt dabei nicht nur ein Ausdrucksversuch, sondern bereits auch ein Lösungsversuch. Hierauf können wir bei der Besprechung des Paradigma von Krankheit als Lösungsversuch näher eingehen.

Krankheit als Lösung

Bei der Besprechung von Krankheit als Funktionsstörung wurde schon gesagt, dass die Auffassung von Krankheit als Lösung letztlich ein Erbe der hippokratischen Medizin ist, welches allerdings unter dem Einfluß des kartesianischen mechanistischen Denkens fast wieder verlorengegangen wäre. Nach der hippokratischen Auffassung war die Physis, das heißt die Naturkraft im Menschen, Urheber eines Abwehrkampfes gegen ein Säfteungleichgewicht im Organismus. Das Fieber, der Durchfall, das Schwitzen etc. waren nicht die Krankheit selbst, sondern Selbstheilungsversuche, mit denen der Organismus sich zu helfen versuchte, indem er Schadstoffe ausstieß.

Im psychoanalytischen Verständnis von Krankheit taucht dieser Ansatz, Krankheit als Lösungsversuch zu verstehen, wieder auf. Unbewusstes, welches nicht seelisch ertragen werden kann, wird zu einem körperlichen Symptom, es wird somatisiert. Die Abwehr unerträglicher Gefühle und Phantasien durch Somatisierung hat Lösungscharakter. Ein Wutaffekt beispielsweise, der nicht als bewusstes Wutgefühl erscheint, sondern als Zahnschmerz, muss seelisch nicht ertragen und nicht bewältigt und auch nicht verantwortet werden, und es ergeben sich mannigfaltige Möglichkeiten, das angeblich körperliche Problem auch im Körper zu lösen, im Falle Zahnschmerzen beispielsweise durch Zahnbehandlung oder Zahnentfernung.

Über den Abwehraspekt hinaus bietet die Entstehung eines körperlichen Symptoms vielfältige Wunscherfüllungsmöglichkeiten, und es hat auch insofern Lösungscharakter, indem es Befriedigungsmöglichkeiten bietet. Diese Befriedigungsmöglichkeiten können direkt am Körper liegen, die Befriedigungsmöglichkeiten können sich aber auch aus sozialen Interaktionen im Gesundheitswesen oder in der Familie ergeben. Im psychoanalytischen Sprachgebrauch werden diese Möglichkeiten, Krankheit als Lösungsweg zu nutzen, auch als primärer und sekundärer Krankheitsgewinn bezeichnet. Primärer Krankheitsgewinn ist die innerpsychische Entlastung, die ein Individuum durch die Entwicklung eines Symptoms erfährt, sekundärer Krankheitsgewinn sind die Vorteile, die sich aus dem Erkrankungsprozess ziehen lassen. Die gesamte Entwicklung der modernen Familienpsychosomatik beruht auf der Beobachtung, dass körperliche Erkrankungen bei einzelnen Mitgliedern der Versuch sein können, ein aus dem Gleichgewicht geratenes Familiensystem erneut über die Erkrankung zu stabilisieren. Sehr evident ist das im Fall von Angstneurosen, die ganz regelmäßig eine brüchig gewordene Ehe wieder zusammenbinden.

Krankheit als System

Dieser Aspekt von Krankheit wird in der Regel am wenigsten beachtet. Das mag daran liegen, dass üblicherweise in einem linearen Ursache-Wirkungs-Modell gedacht wird. In diesem Denken erscheint die anfängliche Krankheitsursache, die krankheitsauslösende Situation, der innerpsychische Konflikt als sehr wesentlich. Alles sich daran anschließende wird als sekundär gedacht, als eine Folge, die zu existieren aufhört, wenn die Wirkung verschwindet, vergleichbar den Bugwellen eines fahrenden Schiffes. Sobald dieses beidreht, verlieren sich die Wellen, die kein Eigenleben haben. Ein solches, sehr einfaches, kausales Prozessverständnis gilt aber tatsächlich nur für sehr wenige Krankheiten des Menschen. Der größte Teil aller Krankheiten lässt sich nicht nach einem einfachen Ursache-Wirkungs-Modell begreifen. Krankheit spielt sich nämlich in drei Systemen ab: im Körper, in der Psyche und im sozialen System. Alle drei Systeme sind nicht wie die Bugwelle des Bootes etwas Unbelebtes, sondern etwas Lebendiges, welches Eigengesetzlichkeit, eigene Regulationsprozesse zeigt.
Es gibt deshalb

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