FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 25. Jahrgang, 1. Halbjahr 2015

Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie - Interview mit Professor Dr. Christian Schubert

Nerven-, Hormon- und Immunsystem beeinflussen sich wechselseitig, und damit haben auch Psyche und soziales Umfeld Einfluss auf das Immunsystem. Professor Christian Schubert (Leiter des Labors für Psychoneuroimmunologie an der Medizinischen Universität Innsbruck) erläutert im Interview unter anderem, wie traumatische Erlebnisse das Immunsystem im Hinblick auf die Entstehung von Krankheiten beeinflussen können und welches Potenzial zur Heilung in psychotherapeutischen Interventionen steckt. Im Schattauer Verlag hat Christian Schubert das viel beachtete Buch „Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie“ veröffentlicht, dessen 2. Auflage am 20. Mai 2015 erschienen ist.

Was sind Ihrer Meinung nach momentan die wichtigsten Erkenntnisse der Psychoneuroimmunologie?

Schubert: Die Psychoneuroimmunologie zeigt eindeutig, dass Psyche und körperliche Messdaten miteinander in Verbindung stehen. Dadurch erhält die psychosomatische Medizin sozusagen Rückendeckung. Das Immunsystem ist ein Vermittler zwischen dem Körper und negativen Umwelteinflüssen. Damit hat ein wesentlicher Schritt in Richtung Überwindung des Dualismus – also der Trennung zwischen Körper und Geist – stattgefunden, der in vielen Arztpraxen leider noch immer die Regel ist.

Die Psychoneuroimmunologie basiert auf Jahrzehnte langer Grundlagenforschung, die Wechselwirkungen zwischen den wesentlichen Subsystemen unseres Organismus – Immunsystem, Nervensystem, Hormonsystem – empirisch nachgewiesen hat. Ein zentrales Konstrukt der psychoneuroimmunologischen Grundlagenforschung ist die sogenannte gemeinsame biochemische Sprache, die die angesprochenen Subsysteme untrennbar miteinander verbindet. Beispielsweise finden sich Rezeptoren an den Zelloberflächen der Nervenzellen, die auf die ankommenden Immunsignale reagieren. Das heißt, das Nervensystem kann jederzeit die Informationen der Immunstoffe (Zytokine) dechiffrieren und sie in Nervenaktivität umwandeln. Umgekehrt kann das Nervensystem Neurotransmitter freisetzen und diese Information wird vom Immunsystem gelesen. Der Austausch funktioniert in beide Richtungen. Und wir wissen, dass das Nervensystem eng mit der Psyche verbunden ist. Somit sind wir schon bei der Psycho-Neuro-Immunologie angekommen.

Wir wissen aber heute auch, dass die Aktivität des Immunsystems beispielsweise im Zusammenhang mit Krankheiten in Gehirnaktivität übersetzt wird und somit die Blut-Hirn-Schranke überbrückt wird. Wir reagieren sozusagen auf Krankheit psychisch und verändern unser Erleben und Verhalten, um uns ein Stück weit an diese Krankheit anzupassen. Wir schlafen zum Beispiel mehr und ziehen uns zurück, um Kräfte zu sammeln, damit wir wieder gesund werden können.

Das ist ein ganz wesentlicher Erkenntnisfortschritt, der auch für eine Überwindung des Dualismus steht. Psyche und Körper sind als Einheit zu sehen und sollten medizinisch in Diagnose und Therapie entsprechend behandelt werden.

Warum sollten die Ergebnisse der Psychoneuroimmunologie verstärkt berücksichtigt werden?

Um das Desaster, das bei den chronischen Erkrankungen in Klinik und Forschung momentan besteht, zu verändern und zu verbessern. Die derzeitige Medizin ist von mindestens zwei nicht lebensnahen philosophischen Strömungen geprägt: dem Dualismus mit der unsäglichen Trennung von Körper und Geist, mit seiner der Vorstellung vom „Maschinen-Menschen“, der wie eine seelenlose Maschine funktionieren soll und angeblich entsprechend repariert werden kann. Wir Menschen sind aber wesentlich komplexer.

Dann gibt es noch den Reduktionismus der biologischen Psychiatrie. Hier geht man davon aus, entzifferte man das Gehirn so gut wie möglich in all seinen biochemischen und neuronalen Aktivitäten, Synapsenverbindungen und so weiter, dann verstünde man auch die Psyche vollständig. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes Unsinn.

Die Psychoneuroimmunologie hat durch den Nachweis der deutlichen Verbindung von Psyche und Immunsystem gezeigt, dass diese Wirkrichtung eigentlich nicht die ist, mit der die Medizin hauptsächlich konfrontiert ist. Es ist eher anders herum: Top down. Der wesentlich größere Einfluss wird von höher komplexen, psychischen, psychosozialen Beziehungsebenen hinunter auf die molekulare Welt ausgeübt.

Im Akutbereich, wenn es um Traumatisierung im Körperlichen geht, Chirurgie etc. ist der Maschinen-Mensch-Ansatz sehr effizient, versagt aber dort, wo man mit der gleichen Idee an chronische Erkrankungen herangeht. Hier sollte auch die Psyche des Patienten und seine psychosoziale Beziehungswelt Berücksichtigung finden, da dort die chronischen Erkrankungen entstehen, aufrechterhalten werden und auch geheilt werden können.

Inwieweit arbeiten Ärzte bereits mit diesen Erkenntnissen?

Es gibt Bereiche in der Medizin, die zunehmend die Notwendigkeit von Veränderungen erkannt haben und sich mit höchst erfolgreichen Ergebnissen gegen dieses Maschinenmodell des Menschen wenden: zum Beispiel psychosomatische Medizin, Komplementärmedizin, Alternativmedizin. Der Rest arbeitet – und das ist für meine Begriffe der größte Teil – biomedizinisch weiter und sieht diese Verbindungen nicht, will sie nicht sehen, ist auch gar nicht in diese Richtung ausgebildet. Der Medizinstudent von heute ist genauso mit Biomedizin, Maschinenmenschenmodell, Reduktionismus, Materialismus und Dualismus konfrontiert wie vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren. Da hat sich nur sehr wenig verändert. Die Medizin-Revolution muss vom Patienten kommen und sie kommt vom Patienten.

Man muss allerdings auch bedenken, dass es sehr viele Erkrankungen gibt, bei denen die psychische Problematik und Störung vom Patienten selbst nicht gesehen werden will, weil sie einfach zu belastend ist. Ich spreche hier von den Somatisierungsstörungen – funktionellen Erkrankungen, die einen großen Teil der Medizin einnehmen. Hierzu könnten auch die Autoimmunerkrankungen zählen. Diese werden heute als „stress-assoziierte“ Erkrankungen bezeichnet und lassen sich – wie die Somatisierungsstörungen auch – immer deutlicher auf Traumatisierungen, Misshandlungen oder Vernachlässigungen in der Kindheit zurückführen. Und mit dem Wissen, dass Immunzellen vom Nervensystem versorgt und von Hormonen umschwemmt werden, die stark mit Gehirnaktivität in Verbindung stehen, könnte man in der Tat soweit gehen und annehmen, dass die Autoimmunerkrankungen zum somatoformen Spektrum der psychischen Erkrankungen zählen könnten.

Das ist eine gewagte Hypothese, aber wir verfügen über erste empirische Hinweise in diese Richtung und wissen bereits so viel mehr als früher über die Vernetzung zwischen Nervensystem und Immunsystem. Ein riesiger Bereich der internistischen Medizin könnte so plötzlich in den Bereich der psychosomatischen Medizin kommen. Denn bei den Autoimmunerkrankungen ist das Desaster der internistischen Medizin eigentlich am augenfälligsten.

Aber auch die Onkologie sollte kritischer gesehen werden: Wir wissen, dass Krebszellen nerval versorgt werden. Und wenn sie innerviert werden, dann monitort das Gehirn den Krebs und der Krebs kann jederzeit Informationen ans Gehirn schicken, so dass wir also auch hier eine starke Vernetzung zwischen Gehirn und Krebszellen annehmen können. Damit sind wir natürlich nur wenig entfernt von der Überlegung, dass Krebs sowohl psychisch entstehen, als auch durch psychische Mittel wieder vergehen könnte.

Inwiefern könnte man vor dem Hintergrund der Psychoneuroimmunologie stärker auf Medikamente verzichten?

Die Verbindung von Immunsystem und Psyche macht deutlich, dass von der Psychotherapie eine Kraft ausgeht, die in ihrer Gesamtheit und in ihrer Tiefe für meine Begriffe nur zum Bruchteil erkannt ist. Das heißt psychosomatische Psychotherapie könnte viel weiter gehen als eine reine Unterstützung und Begleitung der medikamentösen Therapie im Sinne von Stressreduktion zu sein.

Ich bin überzeugt, auch aus meiner täglichen Arbeit mit körperlich kranken Personen heraus, dass man mit psychotherapeutischen Einsichten und mit Mitteln der Psychotherapie körperliche Erkrankungen heilen und verhindern kann.

Dieser Umstand sollte auch stärker bei der Ausbildung zum Psychotherapeuten berücksichtigt werden, denn bislang wird das Wissen der Psychoneuroimmunologie in der Psychotherapie nur seltenst thematisiert. Dadurch ließe sich eindeutig auch die Medikamentengabe reduzieren.

Inwieweit könnte Psychotherapie vielleicht sogar körperliche Beschwerden kurieren?

Die Verbindungen sind von den Grundlagenforschern so deutlich gezeigt worden, dass sich für mich die Frage gar nicht stellt, dass Psychotherapie körperliche Erkrankungen nicht heilen könnte. In der Zukunft müssen die Psychotherapeuten ihr komplexes Arsenal allerdings besser aufrüsten – im Sinne ihrer Techniken und Möglichkeiten, und ihrer Einsicht in psychosomatische oder psychoneuroimmunologische Prozesse. Dazu gehört noch viel Forschung, um diese ganzen komplexen Zusammenhänge noch besser zu begreifen. Wir sind eigentlich erst am Anfang.

Bei welchen Krankheiten ist der Zusammenhang zwischen frühkindlichem Stress, Psyche, Gehirn und Immunsystem genauer untersucht?

Vor allem bei Asthma. Die Psychoneuroimmunologie des Asthmas ist ein unglaublich elaborierter Bereich, der hauptsächlich Forschung an Kindern betreibt. Er hat sensationelle Ergebnisse bezüglich der Immunentwicklung und ihrer Störung gezeigt. Das beginnt schon beim Fötus im Mutterleib, der durch eine gestresste Mutter selbst gestresst ist, Traumatisierungen und entsprechend schwere Störungen vor der Geburt erleben kann und dann bereits mit einem psycho-immunologischen Defizit auf die Welt kommt. Das Immunsystem ist somit in eine fehl gebahnte Richtung gelenkt. In belasteten Familien hört der Stress nach der Geburt meist nicht auf, sondern ist chronisch und verschlimmert sich nun erst recht. Das Immunsystem ist weiterhin sozusagen in dysfunktionale und schädigende Lebensaspekte eingebunden. Entsprechend treten dann die ersten schweren Erkrankungen auf und dazu gehört Asthma.

Es ist klar belegt, dass die T-Helfer-Typ 2 (TH2)-Aktivität nach der Geburt noch physiologisch erhöht ist. Verschiedene Umweltreize, darunter auch normale infektiöse Kinderkrankheiten trainieren dann die T-Helfer-Typ 1 (TH1)-Immunaktivität, was zur Ausbalancierung von TH1 und TH2 führt. Die früh geschädigten Kinder jedoch, die weiter unter Stress existieren müssen, haben ihr TH2 immer erhöht und TH1 leider weiterhin erniedrigt. Damit sind sie besonders anfällig für virale Erkrankungen (TH1) und werden in diese atopisch-asthmatischen Erkrankungen hinein getriggert (TH2).

Und das ist der Beginn einer funktionsgestörten Entwicklung des Immunsystems, vergesellschaftet mit dem Auftritt von Erkrankungen, der dann bis ins Erwachsenenalter hinein reicht. Ständige Entzündungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter führen in der Folge zu entsprechenden Veränderungen im Organismus, zum frühen Auftreten von Entzündungserkrankungen, seien es Herz-, Kreislauferkrankungen, Autoimmunerkrankungen etc. Nachweislich sterben Menschen früher, die in der Kindheit traumatisiert/misshandelt wurden.

Von frühster Entwicklung bis ins Erwachsenenalter hinein läuft dann eine sehr tragische Geschichte ab, die man eigentlich frühzeitig unterbinden sollte und nicht erst später mit irgendwelchen Raucherentwöhnungs- oder anderen Programmen, für die es eigentlich schon zu spät ist. Man muss ganz früh anfangen, diese Entwicklungen einzudämmen.

Krebs ist ebenfalls eine dieser Erkrankungen, die besonders elaboriert erforscht wurde und die mit einer gestörten Immunentwicklung zusammenhängt. Aber wir wissen aufgrund der hohen Komplexität noch nicht ganz genau, ob die Entstehung psychisch bedingt sein kann. Die Studienlage ist inkonsistent. Klar bestätigt ist allerdings, dass ein Krebsrückfall stressbedingt sein kann. Menschen nach der Primärdiagnose und -therapie sind in der Übergangszeit in der Tat anfälliger, wenn sie ihre chronischen Stressoren nicht beseitigen – das ist aus prognostischer Sicht natürlich ziemlich ungünstig.

Angst ist zudem einer der wesentlichen Faktoren, wenn es um Rückfälle bei Krebserkrankungen geht. Wir wissen heute, wie massiv Angst in Verbindung mit biologischen Prozessen, Veränderungen der zirkadianen Rhythmik des Cortisols, zum Beispiel Schlafstörungen oder depressiven Erkrankungen, steht. Das hat klare negative Folgen für die Immunabwehr, lässt sich aber auch therapieren.

Das heißt, wenn hier mehr supportive Therapie (zur Angstreduktion, zur Depressivitätsreduktion, zur Stressreduktion im Allgemeinen) angeboten werden würde, könnte man zumindest in dieser Hinsicht eine Umgebung schaffen, in der der Krebskranke eine bessere Prognose bekommen. Davon bin ich überzeugt und das zeigen auch die Daten der Psychoneuroimmunologie deutlich auf.

Warum belastet Stress scheinbar den einen mehr und den anderen weniger?

Das ist eine sehr komplexe Frage, weil man dafür zwischen einer rein Symptom orientierten Therapie und einer kausal orientierten Therapie differenzieren muss. Es ist in der Medizin leichter Symptome zu verändern und das Leid vordergründig zu reduzieren, in seltenen Fällen lassen sich jedoch wirklich Heilungen hervorrufen.

Und ähnlich ist es auch in der Psychoneuroimmunologie. Es gibt Techniken, die es uns ermöglichen, das Immunsystem zu stärken. Aber auch hier arbeitet man in vielen Fällen eigentlich nur Symptom orientiert. Damit meine ich zum Beispiel Entspannungstechniken, gewisse problemlösungsorientierte beziehungsweise verhaltensmodifkatorische Ansätze, die für meine Begriffe in vielen Fällen die wahre Tiefe von Erkrankungen und psychosomatischen Erkrankungen eigentlich nicht erfassen können und an der Oberfläche bleiben. Veränderungen in der Krankheit können beispielsweise über Schlafhygiene, Ernährungs- und körperliche Aktivitätsveränderungen oder andere Verhaltensveränderungen erzielt werden. Die Verbindung zwischen psychischer Störung und körperlicher Störung sitzt aber möglicherweise tiefer.

Hier gibt es in der Psychotherapie entsprechende Ansätze, die für meine Begriffe weitergehen, wie zum Beispiel psychoanalytische, psychodynamische Ansätze, die diese Aspekte zumindest in ihrem theoretischen Rahmen mitbedenken, wenngleich sie auch noch viel zu wenig gezielt psychosomatisch orientiert sind.

Welche Stressbewältigungsfähigkeiten bringt man mit?

Eine Stressdefinition geht davon aus, dass sich jene Menschen in einer belastenden Situation weniger gestresst fühlen, die von Haus aus mehr Stressbewältigungsfähigkeiten mitbringen. Sie haben schneller den Eindruck, mit Stressoren und belastenden Faktoren in ihrem Leben umgehen zu können, haben die nötigen Instrumente parat und sind resilienter. Es gibt andere Menschen, die haben weniger Instrumentarien zur Verfügung und lassen sich stärker durch Stressoren beunruhigen. Sie durchleben Handlungsunfähigkeit, Kontrollverlust und Ohnmacht.

Eine andere kausalere, tiefergehende Stressdefinition würde viel individualisierter vorgehen. Hier werden die Bedeutungszusammenhänge, die Verbindungen zwischen den in der individuellen Biografie erlebten Konflikten und dem Leben im Hier und Jetzt stärker berücksichtigt. Hier hört überhaupt jede Form der Verallgemeinerung für meine Begriffe auf. Verallgemeinerung ist übrigens auch ein Konstrukt der Biomedizin, die den Menschen als seelenloses Wesen betrachtet. In dem Moment, wo wir komplexere Entitäten erforschen wie Psychisches und Psychosoziales, müssen wir uns auch von der herkömmlichen Form der Verallgemeinerung verabschieden, davon bin ich überzeugt. Lebensnahe Forschung und Therapie brauchen Beziehung und Zeit, um subjektive Bedeutung zu erfassen und zu schaffen, und das ist es, was für meine Begriffe heilsam ist.

Das Interview führte Stefanie Engelfried vom Schattauer-Verlag.





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