Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/02

Magisches Denken
bei Multiple-Sklerose-Patienten


von Bert te Wildt, Ulrich Schultz-Venrath*

Magisches Denken stellt in doppeltem Sinne eine Frühform menschlicher Denktätigkeit dar: Erstens gilt es ontologisch und ethnologisch als primäre Denkform der sogenannten Urvölker. Zweitens geht Magisches Denken auch entwicklungspsychologisch religiösem und logischem Denken voraus.... Ein treffendes Beispiel für Magisches Denken äußert sich in dem Kind, das sich dadurch zu verstecken glaubt, dass es die Hände vor die Augen hält. Es wird aber niemanden verwundern, dass sich Magisches Denken in rudimentärer Form auch bei gesunden Erwachsenen finden lässt. Unter besonderen Belastungen kann es sogar eine Ausprägung erreichen, der eine pathologische Bedeutung zukommt. Als psychopathologisches Symptom ist es wie folgt definiert: "Der irrtümliche Glaube einer Person, dass ihre Gedanken, Worte oder Handlungen ein bestimmtes Ereignis hervorrufen oder verhindern können, wobei allgemeingültige Regeln von Ursache und Wirkung verletzt werden. Magisches Denken kann eine normale Durchgangsphase in der Kindheit sein." ...

Multiple-Sklerose-Patienten wird seitens der sie behandelnden Ärzte nicht selten unterstellt, besonders "magisch" zu denken. Dies erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass MS-Patienten ausgesprochen häufig alternative Heilverfahren in Anspruch nehmen. Diese Heilverfahren haben nicht selten den Charakter von magischen Handlungen und entbehren zumeist einer empirisch gesicherten Grundlage. Es stellt sich die Frage, ob sich dieses Krankheitsverhalten in einem besonders ausgeprägten Magischen Denken begründet oder ob es lediglich der Ausdruck einer Suche nach Alternativen zu den bisher wenig Erfolg versprechenden somatischen Therapieangeboten darstellt. Sollte letzteres zutreffen, könnte Magisches Denken zu einem Repertoire verschiedener Denkformen gezählt werden, der man sich regelrecht "bedienen" kann, um z.B. die Auswirkungen einer schweren chronischen Erkrankung wie der MS zu bewältigen. Damit würde Magischem Denken der Charakter eines Bewältigungsmechanismus im Sinne von "Coping" zugeschrieben. Andererseits könnte Magisches Denken als Abwehrmechanismus dazu dienen, der großen Verunsicherung durch die Erkrankung zu begegnen, über deren Genese, Verlauf, Prognose und therapeutische Chancen zum Einzelschicksal kaum etwas gesagt werden kann.

Ziel unserer Studie war es, herauszufinden, ob Magisches Denken bei MS-Patienten tatsächlich vermehrt auftritt und ob es eine Beziehung zur Inanspruchnahme alternativer Heilverfahren aufweist....

Zu den Ergebnissen unserer Studie, an der 76 gesunde Personen und 94 MS-PatientInnen teilnahmen: Patienten um das 40. Lebensjahr weisen signifikant weniger Magisches Denken auf als gleichaltrige Gesunde. Dies könnte als Zeichen für eine gelungene Adaptionsphase im Sinne von "Coping" gewertet werden, in der bereits eine Auseinandersetzung mit der Diagnose stattgefunden hat und noch keine neuropsychologischen Defizite aufgetreten sind. Diese Phase gilt es mit Hilfe von psychodynamischen Therapien zur Bewältigung regressiver Ängste und mit kognitiven Verfahren zur Stützung neuropsychologischer Ressourcen zeitlich auszudehnen.

Bei neuropsychologisch beeinträchtigten Patienten, insbesondere bei hohem Lebensalter und in fortgeschrittenen Krankheitsstadien, führen kognitive Defizite jedoch zu signifikant höherem Magischen Denken. Dem gegenüber lassen die signifikanten Beziehungen zu dissoziativen Phänomenen Magisches Denken als einen Abwehrmechanismus erscheinen.

Fazit: Unsere Ausgangshypothese ist damit verworfen, und den MS-Patienten als Gruppe ist das Stigma Magischen Denkens genommen. Die fehlende Beziehung Magischen Denkens zur häufigen Inanspruchnahme von unkonventionellen Heilverfahren spricht für die Notwendigkeit einer Intensivierung psychologischer Bemühungen bei Multiple-Sklerose-Patienten, da diese bei Heilpraktikern nicht nur nach somatotherapeutischen Alternativen suchen, sondern auch eine im weitesten Sinne psychotherapeutische Betreuung. Es wird empfohlen, magische Denkinhalte, die Nutzen und die Gefahren alternativer Heilverfahren und den Bedarf an psychotherapeutischer Unterstützung direkt und offen mit den Patienten anzusprechen, um die Arzt-Patienten-Beziehung zu verbessern und damit letztlich auch die Compliance (Bereitschaft zur Mitwirkung, d.Red.) für die konventionelle Behandlung zu sichern.



* Redaktionelle Bearbeitung: H.- Günter Heiden; die ausführliche 11seitige Fassung zu Methode, Ergebnissen und Literatur ist über die Redaktion von FP erhältlich.

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